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Mittwoch, 29. September 2010

was bleibt

mit dem loslassen bin ich noch längst nicht fertig. das ist für mich ein lebenslanger prozess, alles ist immer im fluss. manchmal gerät er ins stocken. manchmal gibt es ereignisse im innen oder außen, die ihn beschleunigen.

strandgut: sand, granitkiesel, rosa rugosa, haselnüsse, muscheln

die zeit am meer war für mich eine solche gelegenheit. sehr erstaunlich, mit wie wenig zeug ich doch eine ganze weile ganz prima ausgekommen bin. andere hatten weitaus mehr gepäck als ich. in beide richtungen.

natürlich ist auch bei mir einiges dazugekommen. ein neuer sand zum beispiel für meine sandstrandsandsammlung. auch die getrocknete rosenblüte von der promenade bleibt ein weilchen. ebenso die zwei noch nicht eingelösten zaubernüsse, die das rote eichhörnchen im patientengarten mir vor die füße warf.

untrennbar verbunden mit der frage „was lasse ich gehen?“ ist der andere pol: was nehme ich mit? was wird mich noch eine weile begleiten? was ist mir wichtig? was gibt mir halt, im augenblick?

die antwort auf diese fragen ist niemals endgültig. anders als die nach dem loslassen. was ich einmal weggegeben habe, ist für immer fort. bei dingen, die ich jetzt behalte, kann ich mir die gleiche frage in einem monat oder einem jahr noch einmal stellen.

das macht das loslassen für mich schwieriger als das behalten.

außerdem stelle ich fest, dass mit zunehmendem alter meine dinge sich vermehren. ist das so, weil ich jetzt, mit ende vierzig, mehr gelegenheiten gelebt habe, an die ich mich erinnern möchte als - sagen wir mal – mit achtzehn? mit achtzehn zog ich von den eltern fort und nahm fast nichts mit. mein umzugszeug passte damals in zwei pappkartons. inzwischen brauche ich einen mittelgroßen LKW.

warum ist das so viel geworden? habe ich angst, dass meine erinnerung mich vergisst, wenn ich keine beweisstücke mehr in meiner nähe habe? ich gebe zu: ja, das habe ich. manchmal blättere ich alte briefe durch und weiß nicht mehr, wer das überhaupt war, die mir da so liebevoll geschrieben hat. dann erschrecke ich sehr.

seitdem ich finanziell so prekär dastehe, behalte ich mehr als früher, gebe weniger fort. schätze mal, das ist die angst, die dinge nicht mehr einfach so nachkaufen zu können, falls ich sie doch mal wieder brauchen sollte. je weniger geld eine hat, desto mehr gibt sie ja anteilig aus. wenn man tausend euro hat im monat, sind 25 euro für eine handgefertigte schöne milchkaffeetasse aus hauchdünner keramik im verhältnis weniger als wenn man nur 350 hat. das macht die einzelnen dinge wertvoller, auch wenn der preis der gleiche ist.

es ist - merkwürdig genug - auch ein elterlich erlebter alptraum, der mir als kind vererbt wurde. die waren ausgebombt im krieg. nichts mehr gehabt als die kleider am leib. es war schon seltsam genug, als ich mal den wohnungsschlüssel verloren hatte. ich wusste doch, die wohnung war noch da und all mein zeug darin ebenso.

aber die umgekehrte vorstellung: den schlüssel in der tasche zu haben, nach hause zu kommen – und die ganze wohnung und alles zeug darin ist weg und auf immer verloren?!  ich träume das oft, dass ich irgendwo bin, wo eigentlich meine wohnung sein sollte – aber ich bin da ganz verkehrt, gehöre da nicht hin, darf da nicht mehr sein, habe kein zuhause mehr. alles weg. alles sehr feindlich. kein ort mein ort, nirgends nicht.

irgendwie macht‘s auch die einsamkeit, das beziehungsfreie flottieren im kosmos, dass ich mein herz bisweilen mehr an dinge hänge. es ist ja nur ganz selten jemand da, mit der ich solche entzückenden kleinigkeiten wieder wachrufen könnte, wie damals …. „weißt du noch, als wir miteinander auf bali waren, in dem künstlerdorf klungkung, abends auf dem nightmarket, an dem kleinen food-stall die frau mit den schwarzen betel-zähnen, der ihre hühnersuppe, wie lecker die war?!“

als der kokosnussschalensuppenlöffel, den ich mir damals kurz vor oder nach der suppe dort gekauft hatte, kaputt ging – da habe ich rotz und wasser geheult. es ist, als ob es jetzt keinen zeugen mehr gäbe für mein abenteuer.

aus genau diesem grund müssen manche sachen einfach bleiben, bis sie auseinanderfallen. die könnte ich niemals weggeben. weil sie eine geschichte haben, die kein anderer kennt und die nur für mich wichtig ist.

das kleine pressglaskännchen zum beispiel, das seit jahr und tag in allen wohnungen egal wo ich war alle umzüge mitgemacht und überlebt hat, immer mit bestem olivenöl gefüllt in meinem gewürzregal am herd steht und täglich in gebrauch ist, und das, obwohl es eigentlich ein bißchen häßlich ist und als ölkännchen viel zu klein und – was noch schlimmer ist – obwohl es tropft! dieses glaskännchen stand vor mehr als einem vierteljahrhundert an einem geburtstagsmorgen als geschenk mit einer rose drin vor der tür meiner studentenbude. so viel liebe kann ich doch nicht einfach wegwerfen! keine frage: das bleibt.

das weggeben übrigens, fällt mir leichter, wenn ich weiß, dass dinge, die „noch gut“ sind, irgendwo anders weiter benutzt werden. in vielen städten gibt es mittlerweile verschenkmärkte. das sind webseiten für kostenlose kleinanzeigen, wenn man seine sachen kostenlos hergibt. das verringert den sperrmüll einerseits, spart geld und schont die umwelt. schicke sache das.

dann gibt es natürlich noch freecycle – das weltweite verschenkenetzwerk – mit ganz vielen lokal organisierten gruppen auch in deutschland. da habe ich schon einiges hingegeben, leichten herzens – und auch schon das eine oder andere „für umme“ abgestaubt.

da ist dann zwar „die sache“ weg - aber es bleibt ein gutes gefühl, ein ganz aufgeräumtes.


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