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Sonntag, 22. Juli 2012

vaterschreck

es ist unsere erste begegnung nach mehr als viereinhalb jahren. sein erster besuch in meinem leben seit mehr als dreizehn jahren. meine wohnung hat er dennoch lieber nicht betreten. wir sitzen auf der terrasse einer renommierten konditorei. der dicke alte mann schaufelt schwarzwälder kirschtorte in sich hinein. ich trinke kaffee mit schlagsahne.


der vater wunderte sich: „Ja darfst du denn immer noch keinen Alkohol ….?“ ich bleibe geduldig. „nein, ich bin trockene alkoholikerin. das weiß du doch, dass man da nicht mehr trinken kann.“ - „Ja aber ich dachte, nach ein paar Jahren, wenn man brav war, dann könnte man wieder ….“. sie wollen es nicht wahrhaben, diese eltern. ich bin schließlich ein wunschkind, und ein wunschkind hat den wünschen der eltern zu entsprechen. „alkoholkrank“ stand nicht auf ihrer wunschkindeigenschaftswunschliste, also wird es ignoriert und freunden gegenüber verheimlicht.

dabei war er es, der mit der 13-jährigen zum „bier-trinken-üben“ in die kneipe ging. „Das wird dir nicht gleich beim ersten Mal schmecken, Tochter. Das ist bitter. Du wirst es öfter versuchen müssen.“ ich wollte seine gute tochter sein und überwand die bitterkeit so lange, bis ich ohne nicht mehr sein konnte.

immerhin ist er innerhalb weniger wochen ein zweites mal quer durch die republik gefahren, um mich zu sehen. sein erster versuch war im mai, als ich in italien war. da war er einfach losgefahren, traf mich nicht an, hinterließ anonyme botschaften auf meiner anrufbefürworterin, die mich bei meiner rückkehr in angst und schrecken stürzten.

ich löffle noch etwas sahne vom extraschälchen auf meinen kaffee.

„wieso hast du dich damals nicht angemeldet?“ - „Ich wollte dich überraschen.“ - „hattest du angst, ich würde nein sagen am telefon? hast du gedacht, wenn du mir die pistole auf die brust setzt und gleich vor der tür stehst, könnte ich dich nicht wegschicken?“ - „Ja.“ wenigstens ist er ehrlich.

in mir eine große vielschichtigkeit von gefühlen:

überfälle finde ich brutal und respektlos. das macht mich wütend. aber ich behalte es für mich. weil ich weiß, dass er dann wieder eingeschnappt wäre. das alte muster. es besteht die gefahr, dass er wieder jahrelang nicht mit mir reden würde, so wie beim letzten mal. so viel lebenszeit hat er nicht mehr.

gleichzeitig fühle ich mich schuldig, weil ich bei seinem ersten besuch im mai nicht zu hause war. der kerl arbeitet seit jeher mit emotionaler erpressung. das ist unerträglich.

gleichzeitig bin ich gerührt von seiner anstrengung, sich mir – auf die beste ihm mögliche weise – wieder anzunähern. gerührt auch von seiner unbeholfenheit.

trotzdem: ich kann ihn nicht leiden, finde ihn eklig. dieser mann hat meine kindheit versaut, meine jugend, mein leben. ich hasse ihn. er war zynisch, desinteressiert. sein häufigster satz, seitdem ich ein i-dötzchen war: „da musst du alleine mit klarkommen. da kann ich dir nicht helfen.“

er war nicht da für mich, niemals fühlte ich mich geborgen. meine bedürfnisse hatte ich den seinen unterzuordnen. tat ich es nicht, sorgte er für mein schlechtes gewissen: ich war schuld, wenn es ihm schlecht ging. wenn er da war, lief ich auf zehenspitzen, alle antennen nur darauf ausgerichtet, ihn nur ja nicht zu stören. er hat mich oft dabei erwischt. ich war nicht leise, nicht unsichtbar genug.

das, was ich sagen will, ist zu viel. mit dem löffel versuche ich, die sahnhäubchen in den kaffee zu tunken und unter der oberfläche zu halten.

der vater ist fast achtzig. er gehört wie die mutter zur eisernen generation, die im zweiten weltkrieg kind oder jugendlich war und erlittene verluste niemals richtig betrauern oder erlebte schrecken verarbeiten konnte. sie sind die ewigen opfer, denen es von allen immer am schlechtesten ging: „Also halte den Mund, Kind! Und jammere nicht! Dir geht es doch gut!“

er spricht von seiner schulzeit, die 1939 begann - und wie er damals von lehrern geschlagen wurde. heischt mitleid „Wenigstens das haben wir dir doch erspart.“ wieder habe ich ein schlechtes gewissen, weil ich „nur“ mit angst, kopf- und magenschmerzen in die schule ging. ich bleibe bei mir so gut es geht und sage „du weißt selbst sehr gut, dass man kinder nicht verprügeln muss, um sie zu quälen und zu foltern.“

„Aus der Sicht der Kinder mag manches anders aussehen als aus der Sicht der Eltern. Aber Eltern haben nun mal die Macht, Ihren Kindern gegenüber immer im Recht zu sein.“

dabei schaut er mich durchdringend an, fast triumphierend. ich verstehe: er duldet keinen widerspruch. der vater besteht auf seiner macht. mit großer kraft bleibe ich diplomatisch: „damals hatten kinder noch nicht das recht auf eine gewaltfreie kindheit. das hat sich inzwischen geändert. es gibt jetzt kinderrechte.“

er kotzt mich an in seiner unfehlbaren selbstgerechtigkeit, die zu keinerlei selbstkritik fähig ist.

ich löffle die ungezuckerte schlagsahne, die nicht untertauchen will, in meinen mund, und bin getröstet von ihrer weißen weichheit.

wir kommen nicht zueinander. er wechselt das thema, obwohl wir das vorige noch gar nicht besprochen hatten. zu vieles bleibt ungesagt.

nach fünf kontaktlosen jahren möchte er fakten aus meiner gegenwart. ich berichte von langer erwerbslosigkeit und vom leben mit hartzIV trotz arbeit. er weint, als er mir als gruß von der mutter einen hunderteuroschein in die hand drückt: "Für Blumen."

ich erzähle auch von meiner derzeitigen halbtagsstelle, die mich viel kraft kostet. er verabschiedet sich winkend und ruft mir freundlich hinterher: „Da musst du jetzt alleine durch. Da kann dir keiner helfen.“

damit hat er natürlich recht. genau so ist es. ich hätte gerne einen menschen in meinem leben gehabt, der die bezeichnung „vater“ verdient. da muss ich schon mein leben lang alleine durch.


ps am 1. Oktober 2012:
durch reaktionen auf diesen text bin ich dem begriff "kriegsenkel" begegnet. in "kriegsenkelin" habe ich mehr dazu geschrieben.



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