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Montag, 7. April 2014

Buschwindröschen

- Rosenworte zum Montag -
 (... oder:  eine lyrische Reizüberflutung)

Als ich gestern so durch den Frühling radelte in meinem blühenden Markgräflerland, ach wie habe ich das geliebt! Die warme, aber noch nicht brennende Sonne und den zärtlichen Wind aus Südwest auf der Haut ... alle Poren habe ich geöffnet, alle Sinne geweitet und alle Schönheit der Welt tief in mich hinein geatmet!

Einer Anemone gleich, die ihren weißen Kelch der Sonne hingibt, solange die Bäume noch unbelaubt ihr ein Leben im Licht erlauben.

Hexenblume (anemone nemorosa)

Am Abend war ich immer noch ganz aufgewühlt, kam kaum zur Ruhe in der Nacht. So beeindruckt und voll war ich von all den Sinneserfahrungen der blühenden, zwitschernden, summenden, leuchtenden Landschaften.

Wie oft, wenn ich nicht schlafen kann, las ich Rilke. Rilkes Verse besänftigen mich. Der innere Aufruhr wird stiller und verstummt bisweilen ganz.

Wie es der Zufall will, stolperte ich über einen von Rilkes Briefen an Lou Andreas-Salomé:

"... Ich bin wie die kleine Anemone, die ich einmal in Rom im Garten gesehen habe, sie war tagsüber so weit aufgegangen, daß sie sich zur Nacht nicht mehr schliessen konnte. Es war furchtbar sie zu sehen in der dunklen Wiese, weltoffen, immer noch aufnehmend in den wie rasend aufgerissenen Kelch, mit der vielzuvielen Nacht über sich, die nicht alle wurde. Und daneben alle die klugen Schwestern, jede zugegangen um ihr kleines Mass Überfluss.
Ich bin auch so heillos nach aussen gekehrt, darum auch zerstreut von allem, nichts ablehnend, meine Sinne gehen, ohne mich zu fragen, zu allem Störenden über, ist da ein Geräusch, so geb ich mich auf und bin dieses Geräusch, und da alles einmal auf Reiz Eingestellte, auch gereizt sein will, so will ich im Grunde auch gestört sein und bin's ohne Ende. ..."*

Das ist die mit Abstand lyrischste und sinnlichste Beschreibung zum Thema Hochsensibilität und Reizfilterstörung, die mir jemals begegnet ist.

Wenn ich nicht achtgebe, dann bin auch ich so dermaßen von Reizen zerstreut, dass ich mich fühle wie in einer Zentrifuge ohne Halt, meiner Mitte beraubt mich vollends verliere und gefressen werde vom Außen.

Zumindest zur Nacht es den Anemonen gleichtun, das hellweiße wache Köpfchen schließen und zur Ruhe kommen - das ist und bleibt eine wichtige Aufgabe.

Aber wie wir sehen bei Rilke, gibt es selbst bei den Anemonen Ausnahmen, denen das nicht (immer) gelingt, die sich gegen eine permanente Reizüberflutung nicht schützen können.

Ob es eventuell damit etwas zu tun hat, dass diese zarten Frühlingsbotinnen auch "Hexenblume" genannt werden und in allen Teilen giftig sind? Eines jedenfalls ist ganz gewiss: Auch ich habe diesen "Anemonencharakter".


*
Juni 1914, zitiert nach:
Ruth Hermann, Im Zwischenraum zwischen Welt und Spielzeug: Eine Poetik der Kindheit bei Rilke - Verlag Königshausen und Neumann, 2002, ISBN 978-3-8260-2273-9, S. 48

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