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Mittwoch, 4. November 2009

matronenspeck

als kleines mädchen war ich ziemlich dünn und immer sehr blass. das hat den eltern nicht gefallen. sie wollten eine andere tochter. keine blasse dünne.



also schickten sie mich in ein kindermästheim. das war im sommer, bevor für mich die schule anfing.
ich war sechseinhalb jahre alt. ich wurde in den zug gesetzt - mit schild um den hals - und musste allein hinfahren. allein dort bleiben. lange sechs wochen lang. allein und krank wieder zurückfahren. ich hatte schreckliches heimweh die ganze zeit und ich weinte jede nacht.

ich war fest davon überzeugt, dass die eltern mich nicht mehr wollten. dass ich irgend etwas falsch gemacht hatte. was genau, das hatten sie mir nicht gesagt. aber es konnte nicht anders sein, als dass sie mich abstoßend fanden. warum sonst hätten sie mich so abgestoßen einen ganzen langen sommer lang?

im kinderquälheim war ich mit fünf anderen mädchen in einem zimmer eingepfercht. nachts war die türe abgeschlossen. es war uns verboten, aufs klo zu gehen. denn wir hätten uns ja dort mit den jungs aus dem anderen stockwerk treffen können. da waren die nonnen sehr streng. ich war sechs. ich wäre niemals alleine nachts durchs haus geirrt. schließlich hatte ich angst vor den großen jungs, und ich hätte alles getan, um ihnen nicht auch noch nachts begegnen zu müssen.

trotzdem war es schlimm, nachts eingeschlossen zu sein. in der mitte des zimmers stand ein pisspott mit henkel. für alle. wir plätscherten abwechselnd im dunkeln und schämten uns in grund und boden.

die schwarzen nonnen gaben sich alle mühe, mich innerhalb von sechs wochen von „blass und dünn“ upzudaten auf die version „prall und rosig“. dazu schaufelten sie mir von ihrem doofen nonneneintopf immer die größten portionen auf meinen teller. ich wurde gezwungen, genau so viel zu essen wie die vierzehnjährigen großen jungs auf der anderen seite der langen tischreihen.

ich flehte und bettelte um kleinere mengen. die küchennonnen waren unerbittlich. sechs wochen lang. ich kämpfte unter tränen mit meinen bauarbeiterportionen. ich schaffte es kaum. ich habe immer sehr lange gebraucht. so viel hunger hatte ich doch gar nicht. das passte doch alles gar nicht rein in meinen kleinen kinderbauch.

alle anderen kinder waren wütend auf mich, denn sie mussten immer auf mich warten. es gab keinen nachtisch, bevor nicht alle teller leergegessen waren. es durfte niemand aufstehen, bevor nicht auch noch der nachtisch verputzt war. ich habe immer am längsten gebraucht von allen. mit grießpudding kann man mich bis heute in die flucht schlagen.

auch die nonnen waren wütend auf mich, weil sie nicht mit dem abwasch anfangen konnten, bevor nicht alle kinder den saal verlassen hatten. ich brachte ihren großen plan durcheinander, weil ich zu langsam aß. ich war schuld.

einmal waren sie so wütend, dass sie mich mit meinem halbvollen teller in die küche zerrten. sie setzten mich zwischen berge von dreckigem ess- und kochgeschirr und befahlen mir, dort aufzuessen. die anderen kinder sollten einen ausflug machen. da konnte man nicht auf mich warten.

mir war schon übel von meiner großportion in dem speisesaal, wo immer ein ekliger mischgeruch von linoleumputzmittel und eintopfdünsten in der luft hing. der gestank der essensreste mit spüli gab mir vollends den rest, und ich übergab mich auf den küchenboden.

am ende meiner sogenannten kinderkur wurde ich krank: mit fieber wurde ich in den zug nach hause verfrachtet. allein. bleich wie die wand kam ich bei den eltern wieder an. die waren sauer auf mich, weil ich meinen schulanfang verpasste. in den windpockenwochen nahm ich allen nonnenmastspeck wieder ab.

ich glaube, damals hat es angefangen, dass ich nicht mehr normal essen konnte. ich aß entweder zu viel oder zu wenig. die mutter war nie ganz zufrieden mit mir. auch meine helle haut passte nicht in ihr bild vom „wunschkind“.

trotzdem war ich viele jahre lang ziemlich schlank. fraulich. normal. mit 18 war ich 176 zentimeter lang und wog 62 kilo. die mutter sagte ständig „paß auf dass du nicht zu dick wirst“. dünn durfte ich nicht sein. aber ein bißchen dickere haut auf den rippen passte auch nicht in ihr bild vom „wunschkind“, das zu sein sie bis heute nicht aufhört mir zu beteuern.

also passte ich auf, dass ich nicht zu dick wurde und aß eine weile so gut wie gar nichts mehr. ich wog noch 55 kilo und war sehr blass.

das nichtessen habe ich nicht länger als ein paar monate durchgehalten. danach nahm ich schnell wieder zu. mehr als vorher ging aber auf gar keinen fall. also spuckte ich wieder aus, was mir zu viel erschien.

ich schämte mich schrecklich. nun verschwendete ich auch noch lebensmittel, indem ich sie erst in mich hineinstopfte und mir kurz drauf den finger in den hals steckte. die mutter hat nichts gemerkt. angeblich. all die jahre nicht.

die bulimie habe ich fast zehn jahre lang betrieben. mal mehr, mal weniger. ich hielt mein gewicht unter 65 kilo. die mutter misstraute ihren argusaugen „kind, du bist doch nicht etwa dicker geworden?“

erst mit mitte dreißig nahm ich ein paar kilo zu. blieb aber immer noch weit unter dem, was in westeuropa als „normalgewicht“ bezeichnet wird.

mehr als drei jahrzehnte habe ich gegen meinen körper gekämpft und habe es doch nie allen recht machen können. irgendwann vor ein paar jahren habe ich dann einfach aufgehört, mich dünne zu machen und bin ge-wichtig geworden.

niemand, der mich jetzt sieht im matronenspeckmantel meiner wechseljahre, würde darunter ein so langjähriges schlankes unglück vermuten.

kein wespentaille mehr, statt dessen trage ich eine weiche hülle von nichtmehrraucherspeck durch die welt, vermischt mit medikamentennebenwirkungsspeck, stoffwechselveränderungsspeck, hartz4kummerspeck, keinerliebtmich-ichbraucheschokoladespeck und – ganz neu! - drei kilo katzentrauerspeck.

so ist das leben eben.


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