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Mittwoch, 2. September 2009

lebensbilder

früher, in meinen zwanzigern, da besaß ich ganz bewusst keinen fotoapparat. ich hatte meinen kleinen prinzen gelesen und sagte oft: „ich mag mich von einem stückchen papier nicht foppen lassen. stell dir mal vor, in zehn oder zwanzig jahren, wenn meine erinnerung schon ganz verblasst sein wird – aber dieses foto ist immer noch so bunt und scharf wie am ersten tag. wie entsetzlich! da will ich die bilder lieber in meinem herzen tragen. da sind sie gut aufgehoben.“



ganze weltreisen machte ich also ohne kamera: den himalaya in flipflops - aber ohne beweisbilder; schneesturm auf dem fuji – das glaubt mir heute keineR mehr; leben in einer bambushütte auf einer kleinen tropeninsel mitten im chinesischen meer – oh idyllisches weihnachts-neujahrs-paradies kurz vor meinem zwanzigsten geburtstag.... aber war ich da wirklich?!

heute stelle ich fest: von manchen situationen, von besonderen oder alltäglichen augenblicken, hätte ich doch ganz gerne ein immerscharfes abbild gehabt, um meiner inzwischen blassen erinnerung auf die sprünge zu helfen.

denn manchmal reichen ein paar bunte optische punkte, und die gesamte verloren geglaubte szenerie taucht wieder auf in meinem herzen: nicht nur aussichten und ansichten, auch gerüche, geräusche, stimmungen, gefühle, das licht – das ganze drumherum samt vorher und nachher wird bisweilen wieder lebendig, wenn ich ein altes foto betrachte.

dann wieder gibt es fotos, da regt sich bei mir GAR nix – dabei habe ich sie doch selbst aufgenommen. aber wo war ich da bloß? wann war das? und mit wem? wer sind diese menschen so nahe bei mir auf dem bild und meinem herzen doch so fern?

irgendwann besaß ich dann doch eine kamera, diese kleine minox: eine analoge kleinbildkamera, die in jede jackentasche passte. heutzutage ist das nichts besonderes mehr. aber damals, 1982, war es das noch.

als die minox mir 1997 im duftenden inselfrühling der ägäis gestohlen wurde, war ich sehr traurig. nicht nur, weil die sonnenuntergangsbilder mit hale bopp nun für immer verloren sind.

ich mochte die kamera sehr, weil sie mich anderthalb für mich wichtige jahrzehnte begleitet hat. gemeinsam mit ihr hatte ich viel mehr gespeichert als nur fotografische erinnerungen.

danach war ich wieder eine weile kameralos. es fehlte mir an nichts, und doch: wenn ich meine fotokisten heute so durchgucke, dann gibt es eine optische lücke – gerade so, als wäre ich jahrelang gar nicht dabei gewesen in meinem leben. aus dieser zeit gibt es nur aufnahmen, die andere gemacht und mir gegeben oder geschickt haben. sozusagen ein blick auf mein leben von außen.

später bekam ich einen anderen foto geschenkt, vom vater. er hatte ausgesucht, nichts mit mir abgesprochen. statt der heiß ersehnten (aber für mich unbezahlbaren) spiegelreflex bekam ich eine auf immer ungeliebte vollautomatische kleinbildkamera, an der ich überhaupt nichts mehr einstellen konnte außer sonne und wolken.

die pentax war "praktisch, robust und pflegeleicht" - etwas „anständiges und vernünftiges“ - wie es der vater bevorzugte: ein häßliches großes ding zum knipsen.

aber keine KAMERA, mit der ich hätte FOTOGRAFIEREN können! in meinem fotokarton aus diesen jahren: uninspirierte und fast seelenlose schnappschüsse, denen man es irgendwie ansieht, dass ich den fotoapparat nicht leiden konnte.

photographisch erwacht und aufgelebt bin ich erst wieder vor einem halben jahr: die lang ersehnte Canon EOS ist endlich mein! zwar gebraucht und finanziert teils als geschenk, teils als kredit und teils mit meinem jämmerlich wenig ersparten, aber MEIN und auch noch digital!

plötzlich gibt es kaum eine sekunde meines lebens mehr, die ich NICHT fotografisch festhalten möchte. mag sein, dass das an der wunderbaren kamera liegt.

kann aber auch sein, dass schöne augenblicke mir jetzt, fast fünfzigjährig, kostbarer erscheinen als vor dreißig jahren. denn – so insgesamt gesehen – habe ich mehr davon hinter mir als vor mir. damals, als ich eine kamera noch für entbehrlich hielt, war das genau umgekehrt.

im gegensatz zu damals weiß ich heute, wie es sich anfühlt, wenn meine eigene erinnerung mich foppt. wie garstig und beschämend, dabei war ich doch dabei! genau deswegen wünsche ich mir bisweilen beweise für die ewig neuen farben des himmels und für alles andere auch!

wer weiß, welche streiche mein gedächtnis mir noch spielen wird, wenn ich erst achtzig bin!


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