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Sonntag, 1. August 2010

ptbs

eine neue diagnose, mit der ich mich erst einmal anfreunden muss. die ärztin hat es noch gar nicht mit mir besprochen. aber es steht als kürzel in meinem therapieplan, der mir am donnerstag ausgehändigt wurde.

grand hotel heiligendamm: rückansicht II

posttraumatische belastungsstörung. ich weiß, was es bedeutet und weiß es auch irgendwie nicht. schließlich lebe ich seit meiner frühen kindheit mit den symptomen.

dass „das“ eine eigene „krankheit“ ist, weiß ich erst seit wenigen jahren. dass es auf mich zutrifft, habe ich lange geahnt. scheinbar hat bisher nur niemand gewagt, laut auszusprechen und deutlich aufzuschreiben, was ist.

es beruhigt mich und hilft mir sehr, dass meine probleme - oder zumindest ein teil davon - nun einen namen haben. vor allem gibt es meinem aufenthalt und meiner behandlung hier eine neue richtung. ptbs macht andere maßnahmen notwendig als eine rezidivierende depressive störung mittleren bis schweren grades nicht genauer bezeichneter herkunft.

was mich hier im détail erwartet, weiß ich noch nicht. erst einmal habe ich die erlaubnis, in aller ruhe anzukommen und mich einzugewöhnen. meine seele ist noch lange nicht wieder bei mir. ich warte geduldig.

die ersten tage seit mittwoch waren unendlich schwierig für mich und sind es noch. als ich mein zimmer sah, wäre ich fast rückwärts wieder hinausgegangen, wollte auf dem absatz kehrt machen und sofort nix wie weg hier.

es war so beklemmend eng, die aussicht wie ein graues betonbrett direkt vor der nase, dass ich schier keine luft bekam und in den ersten beiden nächten so gut wie nicht geschlafen habe. atemnot, migräne, übelkeit, verzweiflung.

vorgestern hat man mir den umzug in ein anderes zimmer weiter oben ermöglicht. seither wird es leichter. nun schaue ich auf die straße und den bahnhof über den wald nach osten und sehe ganz viel himmel. wenn ich mich ganz weit aus dem fenster beuge, sehe ich ein kleines stückchen vom meer. ich schlafe wieder.

das programm der ersten tage war heftig voll zackzack ein termin jagte den nächsten, eine untersuchung an der anderen. lange flure auf und ab fremde türen suchen, lange vor und in behandlungszimmern sitzen und warten. das alles in neuer umgebung, hunderte von fremden menschen um mich herum, ständig neue gesichter.

ich fand es brutal, war total gestresst und überfordert. erst recht nach der langen reise und zwei schlaflosen nächten.

aber nun scheint es ruhiger zu werden. peu à peu kann ich mich um die dinge kümmern, dir mir selbst wichtig sind. für fast jedes anliegen gab es bislang ein offenes ohr und wohlwollende unterstützung. dafür bin ich sehr dankbar.

ich fühle mich gut aufgehoben. die ankunft meiner seele erwarte ich in kürze.

selbige hängt noch in duisburg, dort ist sie wohl unterwegs ausgestiegen, als wir durchs ruhrgebiet fuhren:

die ungeheuerlichen ereignisse bei der love parade am vergangenen samstag haben mich total gerissen. ich kenne diesen tunnel aus meiner kindheit. das ist ein endloses gruselding auch ohne menschenmassen.

dabei hatte ich mit der loveparade nie was am hut, mit lauter musik und tecchno (heißt das heutzutage überhaupt noch so?) sowieso nicht. im gegenteil. als ich noch in berlin lebte, habe ich regelmäßig geschimpft über den lärm und um meinen geliebten tiergarten gebangt.

der morgen danach war immer besonders schrecklich. die räumkolonnen der BSR in der 'straße des 17. juni' kamen kaum durch die berge von müll, überall stank es nach kloake. am schlimmsten aber war, dass überhaupt kein vogel mehr da war. kein zwitschern kein gar nix war zu hören. jedes jahr musste der park quasi neu aufgeforstet werden, weil die ravermeute alles kurz und klein getreten und totgepinkelt hatte.

aber das eine hat ja mit dem anderen nichts zu tun. erst recht nicht mit dem leid, das nun geschehen ist.

als ich am samstag, den 24. juli im online ticker so gegen 18 uhr die erste nachricht las, dass es bei der love parade in duisburg tote gegeben hatte, war ich gerade mit reisevorbereitungen beschäftigt. danach konnte ich mich auf nichts mehr konzentrieren.

am sonntag habe ich die koffer gepackt. ich habe unendlich lange dafür gebraucht, weil ich dieses unglück so ungeheuerlich, so absolut unfassbar fand. immer wieder habe ich nach neuen informationen gesucht.

inzwischen habe ich videos gesehen, die das geschehen dokumentieren. ich habe authentische blogs gelesen darüber wie grausam die situation war. ich fasse es nicht und sende kraft, licht und liebe den überlebenden und angehörigen.

ich habe versucht, mir jeglichen gedanken daran zu verbieten, weil es doch sowieso niemandem nutzt und nichts ungeschehen macht, wenn auch ich noch schockiert und heulend in der ecke sitze, obwohl ich gar nicht dabei war.

es half nichts. es ist nicht das aktuelle unglück allein, das mich so aufwühlt. es triggert alte bilder aus meiner kinderzeit in duisburg. der tunnel. der bahnhof. der große platz. der vergoldete anker, auf den der fiese großvater so stolz war.

im woolworth machte er das kleine mädchen zu seiner lolita mit knallrot geschminkten lippen. noch heute höre ich die leute tuscheln „hast du das gesehen, das ist ja schrecklich“. noch heute schmecke ich den billigen lippenstift.

es ist kein wunder, dass ich ziemlich aufgelöst hier ankam. auch die vergangenen monate am ungeliebten arbeitsplatz und die sogenannten „missbrauchsskandale“ stecken mir noch in den knochen.

ich war so dermaßen am ende meiner kraft, dass ich mich nicht einmal darüber freuen konnte, endlich am meer zu sein.

heute erst war ich mal baden. da hat es geregnet. das ist mal wieder typisch. es war trotzdem schön.

morgen beginnen die therapien, erst mal noch soft: in den ersten tagen geht es hauptsächlich um körperliche fitness und seelisches entspannen, um mich zu stabilisieren.

danach geht meine reise mehr nach innen. ich bin noch nicht sicher, in wie weit ich in den nächsten wochen die öffentlichkeit daran teilhaben lassen möchte und hier regelmäßig schreiben will. ich werde vieles umkrempeln und neu sortieren. das braucht zeit. meine zeit.

wenn mal länger nix kommt, dann seid gewiss: ich bin hier gut aufgehoben. wenn ich will, ist immer jemand für mich da.


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