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Sonntag, 15. August 2010

springen verboten

es ist nicht leicht für mich, patientin zu sein in dieser reha-klinik. der rahmen ist so eng gesteckt, die termine sind so viele, so unflexibel und so dicht gesetzt, dass ich gar nicht weiß, wo ich die kraft hernehmen soll, um all dem gerecht zu werden und eine 'gute patientin' zu sein.

hinweisschild: seebrücke heiligendamm

wenn ich keine gute patientin bin, riskiere ich, wieder nach hause geschickt zu werden. das will ich auf jeden fall verhindern. natürlich wird man das niemals so sagen. offiziell heißt das dann in etwa: „wir sind der meinung, dass wir nicht die richtige klinik sind für Ihr krankheitsbild und dass wir Ihnen nicht angemessen helfen können.“

so schnell wieder zurück, das will ich auf keinen fall. also passe ich mich ein, so gut es geht. aber vielleicht haben sie ja recht, und ich bin wirklich am falschen ort?

ich hatte gehofft, hier zur ruhe kommen und kraft tanken zu dürfen. es ist eher das gegenteil der fall. ich fühle mich eingeengt und ausgebremst, hänge wie ein bild gefangen in einem rahmen, der mich nicht angemessen zur geltung bringt.

mit am schlimmsten sind die mahlzeiten. in aller öffentlichkeit. in großen räumen. auch, wenn ich seit einer ganzen weile schon in dem sehr viel ruhigeren nebenraum sitzen darf. es bleibt unruhig: mehr als 250 patientInnen schwatzen, schmatzen und schwitzen, bedienen sich am buffett, stehen schlange am einzigen toaster, am safthahn, drängeln sich um die schnell leer geräumten „besten happen“.

frühstück ist ab sieben. spätestens um dreiviertel neun ist kehraus; mittagessen ab halb zwölf – um halb eins schon kommen die mitarbeiterInnen des hauses. bis dahin muss mein platz frei und aufgeräumt sein. abendessen zwischen fünf und viertel vor sieben.so früh, da denke ich sonst nicht mal ans kochen.

während man isst ("schmackhafte" schonkost, übrigens), fahren die küchenhelferinnen mit großen wagen laut klappernd durch den saal und sammeln benutztes geschirr und besteck ein. nie ruhe. unter der woche sind die mahlzeiten im einzelfall noch kürzer, weil die essenszeiten sich überschneiden mit therapien und anwendungen.

zwischen den mahlzeiten gibt es für die individuelle versorgung den wasserhahn, den kaffee- und schokoriegel-automaten und am nachmittag die cafeteria mit kuchen, sekt und bier. in der so genannten teeküche stehen den anstaltsinsassen von 7 bis 8uhr30 und von 16 bis 22uhr30 ein wasserkocher und eine kaffeemaschine zur verfügung. tassen, anderes geschirr oder teekannen gibt es dort nicht, auch keinen kühlschrank. wir müssen alles selbst mitbringen oder irgendwo kaufen. tagsüber zwischen 8uhr30 und 16 uhr ist der raum sowieso abgeschlossen.

es gibt keine pause, keine ruhezeit nach dem essen. ständig sind da so viele fremde menschen. es gelingt mir nicht, in einen rhythmus zu finden. den bräuchte ich dringend für mein wohlbefinden. aber irgendwas ist immer. das macht mich müde. so sehr müde und erschöpft.

in den stundenplänen der klinik gibt es nichts, worauf ich mich freue. nichts, was mir wirklich spaß macht. ich funktioniere, erfülle das therapiesoll und träume davon, ans meer zu dürfen – so wie „zu hause“ auch.

dabei stelle ich fest, dass ich zu dem platz, wo ich derzeit miete zahle und wo mein zeug steht, keinerlei gefühl von 'zu hause' habe. ich vermisse nichts. gar nichts, spüre nicht einmal einen anflug von 'heimweh'.

genau so gut könnte ich auch an die ostsee ziehen. wenn ich es finanziell stemmen könnte, würde ich das womöglich sofort tun. bloß um mal wieder woanders zu leben. dabei hatte ich doch damals fest vor, endlich sesshaft zu werden, als ich im frühjahr 2002 von berlin ins dreyeckland zog.

es ist mir auch in mehr als acht jahren nicht gelungen, wurzeln zu schlagen. mein inneres zigeunerkind hat unruhe, will wieder auf wanderschaft! dabei weiß ich doch, dass ich mir selbst nicht entkommen kann: all den schmerz, die einsamkeit und die trauer würde ich doch immer mitnehmen, egal wohin. außerdem braucht diese gegend ganz bestimmt nicht noch eine arbeitslose endvierzigerin, die nicht mal mehr vollschichtig arbeitsfähig ist und sich auch auf absehbare zeit nicht selbständig wird ernähren können.

trotzdem, wieso eigentlich nicht?! was, wenn ich beschließe, meine seelenlast einfach nicht mehr mit mir herumzuschleppen?! irgendwo abzuladen und in einem imaginären seelenmüll-endlager auf nimmerwiedersehen zu versenken? kann das gelingen? ich nehme an, ich werde hilfe brauchen.

mein leben lang schon wollte ich am meer leben. wann, wenn nicht jetzt? warum nicht die wechseljahre mit einem weiteren großen wechsel einläuten, wenn ich sieben mal sieben jahre gelebt habe?

also lasse ich diesen gedanken mal zu, schaue im internet nach wohnungsangeboten, sondiere den arbeitsmarkt. warnemünde gefällt mir gut. aber da lege ich mich jetzt noch nicht fest. auch in wismar hat es mir gut gefallen. sonst habe ich hier ja bislang noch nicht viel gesehen.

ich weiß nur, dass ich diese landschaft mit dem weiten horizont und dem hohen himmel schon jetzt sehr mag. wie sich das gefühl entwickelt, wenn meeresrauschen womöglich alltag wird, das kann ich nicht hellsehen, müsste ich ausprobieren.

wer weiß. vielleicht gibt es ja doch eine möglichkeit, mir diesen traum zu verwirklichen – und dann schreibe ich auf das doofe schild: springen erbeten!


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