als ich im juli vom besuch des vaters berichtete, unsere lebenslang schlechte beziehung und seine
erlebnisse im zweiten weltkrieg erwähnte und ihn der von mir so
genannten „eisernen generation“ zuordnete - da ahnte ich nicht, dass
ich ein phänomen beschrieb, das seit einigen jahren einen namen hat.
ich bin tochter von kriegskindern. ich
bin kriegsenkelin.
ich bin tochter von menschen, die im
zweiten weltkrieg selbst als kind militärischen an- und übergriffen
hilflos ausgesetzt waren, die vertreibung und flucht, den verlust von
hab&gut und geliebten menschen ohne filter miterlebten; die ihre
traumata niemals verarbeiten konnten, alle gefühle in sich
verbunkerten, selbst mit überleben beschäftigt waren und von den
eigenen kindern bedingungsloses funktionieren nicht nur erwarteten, sondern auch einforderten.
es trifft nicht nur mich, es trifft
viele. die rede ist von einer ganzen generation. es geht um menschen,
die - in etwa - zwischen ende der 1950er und anfang der 1970er jahre
geboren wurden. die „geburtenstarken“ jahrgänge, auch die.
vermutlich bin ich auch noch
kriegs-ur-enkelin. denn auch die eltern waren ja kriegsenkel, kinder
von menschen, die den ersten weltkrieg als kind erlebt hatten. in der
traumaforschung weiß man heute, dass nicht verarbeitete traumata
sich an die nächste generation vererben können.
wer ein trauma nicht auflöst, gibt es
weiter. passiert das über mehrere generationen hintereinander,
kommen immer neue ungelöste traumata hinzu, das trauma potenziert sich. neue
kriege entstehen - auf allen ebenen: nicht nur zwischen staaten,
sondern zwischen menschen und - schlimmer noch: IN menschen. in mir.
in dir.
das gilt für alle kriege, für alle
katastrophen, überall auf dem planeten. welch eine erschreckende
einsicht. und gleichzeitig: welch eine riesenchance auf heilung, auf
ein kleines bißchen weltverbesserung, wenn ich sehe, dass ich meinen
teil dazu beitragen kann, indem ich mit meiner eigenen genesung
beginne, das eigene trauma auf- und mich erlöse.
eine freundin brachte mich auf die
spur, gab mir einen link, einen buchtitel. ich folgte den hinweisen
und fand informationen, verständnis, unterstützung. ich fand etwas
beruhigung meines inneren aufruhrs, erklärungen für einen teil
meines traurigen lebens von kindheit an. ich fand die chance auf
kleine heilung und linderung des schmerzes.
es wächst ein neues verstehen der
seelischen nöte der eltern - auch wenn ich nicht für alles
verständnis habe und sie schon gar nicht aus ihrer verantwortung
entlassen kann. es gibt keinerlei entschuldigung dafür, die eigenen
kinder zu quälen und zu foltern, niemals.
die einsamkeit bleibt, die emotionale
verwahrlosung, die schreckliche hasserfüllte seelische
heimatlosigkeit, die unendliche angst des „sich-verloren-fühlens“.
die vergangenheit wird ja nicht plötzlich ungeschehen, bloß weil man
sie etwas besser versteht. es gibt keine „undo“-taste fürs
gelebte leben.
die journalistin Sabine Bode hatte sich zunächst mit
Kriegskindern befasst, bevor sie deren kindern, uns kriegsenkeln
also, ein eigenes buch widmete. in „Kriegsenkel“ schreibt sie im
kapitel „Gespenster aus der Vergangenheit“:
„Ich schreibe
über Menschen, denen die eigenen Eltern unwillentlich Schaden
zufügten, und - was die Folgen bis heute so schwer erträglich macht
- deren Eltern keine eigene Beteiligung am Unglück ihres Kindes
sehen, bzw. die überhaupt kein Unglück wahrnehmen.
Sie werden in
diesem Buch nicht beschuldigt, denn als Traumatisierte konnten sie
ihr Handeln nicht richtig einschätzen. Aber sie werden auch nicht
geschont. Denn Schonung würde bedeuten, das Schweigen in die nächste
Generation weiter zu tragen, wo es erneut Verwirrung und
unerklärliche Symptome verursachen könnte.“ *
vater und mutter sind die menschen, die
mir in meinem leben am meisten geschadet haben. sie sind jetzt 80 und
85 jahre alt. sie haben nicht mehr viel zeit, um sich aus ihren
eigenen verwirrungen zu lösen, und offensichtlich so gar kein
interesse daran. was sie eine „wiederannäherung“ nennen, ist für
mich eine fortsetzung der qualen meiner kindheit und jugend. ich darf
nicht sagen, was ist und was war - sonst gibt es keifen und fauchen, zynische
bemerkungen und beleidigten kontaktabbruch.
statt dessen soll ich
sie emotional füttern, hätscheln und päppeln. nur dann bin ich - in ihren augen - die
„gute“ tochter. das lügen den eltern zuliebe aber, damit sie sich ihre eigenen lebenslügen nicht eingestehen müssen, halte ich nur schwer aus: sind sie außer blickweite, mache ich
fressanfälle, knalle mit dem schädel gegen die wand und zerkratze
mir die kopfhaut bis es blutet. nicht wieder zum alkohol, zu nikotin
oder anderen drogen zu greifen, fällt mir in solchen zeiten
besonders schwer.
zu wissen, dass ich mit dem „phänomen“
nicht alleine bin, lindert den schmerz. im internet und in echt gibt
es unterstützung. besonders hilfreich finde ich das „ForumKriegsenkel“ mit vielen informationen, einer aktuellen studie (2012), lebensgeschichten, literaturtipps und links.
hier im blog habe ich ein weiteres
'label' eingetragen, das auf posts verweist, die mit meinem
kriegsenkelin-sein zu tun haben - auch wenn ich das wort
„kriegsenkel“ nicht immer explizit benutzt habe.
gleichzeitig habe ich damit auch mojour - also mir selbst - ein neues 'label' angehängt: immer
unterwegs mit dem ziel, die zu werden und zu sein, die ich wirklich
bin, lautet der aktuelle zwischenstand ungefähr so:
„frühkindlich multipel sexuell und anders traumatisierte, rezidivierend depressive, kreative,
hochsensible hochbegabte, prekär lebende, anonym bloggende
journalistin, trockene alkoholikerin, kalte raucherin und
kriegsenkelin mit autistischen zügen in den wechseljahren“ .... und noch viel mehr!
* aus:
Sabine Bode, Kriegsenkel,
Klett-Cotta 2009, ISBN 978-3-608-94550-8 (S. 30)
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