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Sonntag, 21. August 2011

hochbegabt – ganz normal?

eine buchbesprechung

als ich vor knapp fünf jahren endlich den offiziellen iq-test bei mensa in deutschland machte, war ich ziemlich aufgeregt. es dauerte gefühlte monate, bis das ergebnis eintraf: die von mir erzielte sehr hohe hausnummer bestätigte meine heimliche vermutung aus schulmädchenzeiten und überraschte mich nicht wirklich.


das ergebnis schwarz auf weiß zu sehen, von einem psychologen unterschrieben, beruhigte mich ein bißchen. hatte ich meine intelligenz zumindest nicht versoffen in all den jahren.

die beigefügte einladung, dem verein der superschlauen doch bitte beizutreten, schmeichelte mir. ich folgte ihr nicht, weil a) das geld für den jahresbeitrag für hartz-IV-empfängerInnen im regelbedarf nicht vorgesehen ist und b) ich wenig sinn darin sehe, einem verein beizutreten, dessen aufnahmekriterium einzig ein IQ jenseits der 130 ist.

für meinen IQ kann ich nix. ich bilde mir nichts drauf ein. das ist kein 'besser oder schlechter', allenfalls ein wertfreies 'anders': angeboren wie meine grünen augen. ich kann weder das eine noch das andere ändern. höchstens kaschieren. es ist wie es ist. ich gehe damit um.

der brief mit dem ergebnis verschwand in einem ordner. ich hatte immer noch keine ahnung, was es mit der diagnose „hochbegabung“ tatsächlich auf sich hat – mal abgesehen von der tatsache, dass man dann vielleicht schneller rechnen kann.

erst durch mein blog und speziell eine meiner leserinnen entdeckte ich vor rund zwei jahren das thema für mich neu. ich las „Jenseits der Norm – hochbegabt und hochsensibel“ von Andrea Brackmann. das buch war eine offenbarung für mich. eine buchbesprechung habe ich damals im begabungsblog von Nathalie Bromberger veröffentlicht.

der klett-cotta verlag mochte meinen beitrag und war so nett, mir auch das zweite buch von Andrea Brackmann zuzusenden: „Ganz normal hochbegabt – Leben als hochbegabter Erwachsener“. so rasch nach dem ersten gelesen stand da für mich nicht viel neues drin. durch meine anstrengende situation als hochschulsekretärin war ich viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt. für die einzelnen schicksale anderer „betroffener“ hatte ich damals weder kopf noch nerven.

als ich mich neulich dabei ertappte, dass ich im zusammenhang mit einer anderen diagnose an die hiesige universitätsklinik schrieb „im übrigen möchte ich darauf hinweisen, dass ich an einer hochbegabung 'leide'“ - habe ich mich an Brackmanns buch wieder erinnert und zog es von ziemlich tief unten aus dem bücherstapel auf meinem nachttisch hervor.

erstens darf es doch nun wirklich nicht sein, dass ich an meiner brillanz leide. zweitens tue ich auch Frau Brackmann damit unrecht und all den autorInnen in ihrem buch, die so offen von den freuden und qualen ihrer eigenen intelligenz berichten.

manchmal brauche ich einfach gleichgesinnte mit ähnlichen erfahrungen, um mich selbst wieder ins lot zu rücken. das ist wie mit der selbsthilfegruppe für trockene alkoholikerInnen. es hilft.

es hilft, darüber zu lesen, dass auch andere 'superhirne' nicht zwangsläufig erfolgreiche überflieger sind. damit hadere ich ja sehr: dass mein potential so brachliegt, weder gefordert noch gefördert (und vor allem: nicht angemessen honoriert) wird. dass ich andererseits ganz oft die schnauze voll habe davon, ständig 'denken' zu müssen und niemals abschalten zu können. bisweilen würde ich am liebsten auf einem niveau von, sagen wir: IQ 78 dahindümpeln. ruhe haben im kopf. nicht ständig alles hinterfragen und auch noch dem letzten i-tüpfelchen auf den grund gehen müssen; statt dessen die welt und das leben nehmen wie es kommt. zwar leicht debil sein, aber zufrieden.

die mit einem hohen IQ einhergehende hohe empfindsamkeit, von der ich niemals pause habe, erklärt auch – zum teil – meinen hohen alkoholkonsum über jahrzehnte hinweg: wenn es mir zu viel wurde, habe ich meine sinne mit alkohol betäubt, die immer grellen wahrnehmungen gedämpft und weichgespült. das erklärt auch, warum es mir jetzt, auch nach jahren ohne droge – in dieser hinsicht schlechter geht als vorher: meine wache belastbarkeit beträgt nur einen bruchteil von der im betäubten zustand. ich 'funktioniere' nicht mehr so 'gut' wie früher; musste lernen und lerne immer noch, meine eigenen grenzen überhaupt erst wahrzunehmen, sehr viel enger zu stecken als ich es mir für mich selbst wünschen würde – und mich damit abzufinden, dass ich meinen eigenen hohen ansprüchen niemals mehr werde gerecht werden können.

Andrea Brackmanns buch hilft mir also sehr, noch einmal aus verschiedenen blickwinkeln beleuchtet zu erfahren, dass hochbegabte z.b. nicht nur 'schneller denken' können, sondern auch ein vielfaches an informationen aufnehmen und dieses viele obendrein auch noch heftiger empfinden: dadurch mehr verarbeiten müssen und in manchen bereichen leichter überfordert und auch oft langsamer sind als 'normal begabte'.

außerdem wäre frau Brackmann nicht sie selbst, wenn sie das runde dutzend sehr berührender lebensgeschichten von hochbegabten erwachsenen einfach nur kommentarlos aneinandergereiht hätte.

während hochbegabte kinder immer häufiger frühzeitig als solche erkannt werden und eine angemessene förderung erhalten, geht man bei erwachsenen scheinbar immer noch davon aus, dass es sich 'irgendwann auswächst'. das tut es jedoch nicht. es bleibt uns erhalten!

ebenfalls im buch zu finden sind daher hinweise zum aktuellen stand der forschung, tipps und anlaufstellen; dazu eine übersicht samt kritischer bemerkungen zu den gängigen IQ-tests und – für mich mit das wichtigste: eine sehr einfühlsame zusammenstellung der wichtigsten merkmale von hochbegabung mit den allerschönsten verhaltensempfehlungen, damit umzugehen, ohne ständig sich selbst zu zerfleischen.

meine lieblingsstelle kommt fast am schluss: die liste der sogenannten 'häßlichen wörter'. dabei handelt es sich um eine beliebig erweiterbare aufzählung von meist 'sozialen' situationen, die für menschen mit hochbegabung oft nur schwer auszuhalten sind. ich zitiere: „Betriebsausflug, Großputz, Stuhlkreis, geselliges Beisammensein, Supermarktmusik, Schützenfest, runde Geburtstage, Höflichkeitsfloskel, Schwimmbad, Großraumbüro ....“

ich empfinde es als sehr wohltuend, mich zu solcherlei nicht mehr zwingen zu müssen, nur weil alle anderen das normal finden; statt dessen nun endlich sagen zu dürfen „nein danke, das ist nichts für mich“ und mich an derlei aktivitäten nur noch zu beteiligen, wenn es überhaupt gar nicht anders geht. oder früher zu gehen, wenn es mir zu viel wird und für danach ausreichend pause zum kräftesammeln einzuplanen.

ebenfalls wohltuend die erkenntnis, dass solcherlei 'hochbegabte empfindlichkeiten' weder durch therapie noch durch mehr selbstdisziplin kurierbar sind. ich bin und bleibe eine empfindliche zicke. das erleben der eigenen hochbegabung und der umgang damit sind täglich neue herausforderungen, vermutlich bis an mein lebensende und ohne pause.

diese aussicht ist nicht gerade beruhigend. aber mit meinem kreativen hochleistungsgehirn dürfte auch das zu schaffen sein.


Andrea Brackmann
Ganz normal hochbegabt
Leben als hochbegabter Erwachsener
Klett-Cotta Leben!
ISBN 978-3608860061
derzeit 14,95 €

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