Achtung. Achtung. Achtung.
Wir sind umgezogen!

Januar 2021

Das Büro für besondere Maßnahmen ist ab sofort erreichbar auf mojour.de

Nach und nach werden alte Beiträge – ggf. aktualisiert und überarbeitet – dorthin umziehen. Bitte folgen ... :-)

Dienstag, 21. Juni 2011

wohnen bleiben II

kleines aufatmen

heute vor genau sieben jahren bin ich zum ersten mal in dieser wohnung aufgewacht. mit ganzer absicht hatte ich mir zum 'erstlingsschlafen' die kürzeste nacht des jahres gewählt, die sommersonnenwende. zur schönen aussicht gab es nur mein bett und - natürlich – alle notwendigen utensilien für meinen geliebten frühstücksmilchkaffee.


alle meine anderen dinge kamen erst ein paar tage später. es war gigantisch schön, in der leeren wohnung zu sein, platz zu haben für mich und meine gedanken: es war ein bißchen wie camping, ein picknick mit mir selbst.

die wohnung war für meine verhältnisse relativ teuer, mit meiner arbeitslosenhilfe aus einer teilzeitstelle als kulturredakteurin in berlin konnte ich sie mir so gerade eben leisten.

aber ich kenne mich doch und mein prekäres inneres gleichgewicht: seit vielen jahren weiß ich, dass meine vier wände hell und luftig sein müssen, damit ich mich auf dauer darin wohlfühlen, die depressionen im zaum, die multiplen traumata bändigen, einen rückfall in die alkoholsucht verhindern – und damit meine erwerbsfähigkeit erhalten - kann.

also spare ich lieber an anderer stelle. nach abzug der miete blieb mir auf einen euro unterschied genau das, was ein halbes jahr später 'regelbedarf hartzIV' heißen sollte. vor dem arbeitslosengeld 2 hatte ich keine allzu große angst. schließlich hatte der damalige superminister für wirtschaft und arbeit, wolfgang clement, im jahr 2004 hoch und heilig versprochen „niemand, der jetzt arbeitslosenhilfe erhält, wird nachher mit hartzIV schlechter dastehen“.

außerdem hatte ich überhaupt nicht vor, so lange erwerbslos zu bleiben, sondern statt dessen große und durchaus berechtigte hoffnung, ganz bald wieder eine feste stelle zu finden.

damals steckte ich mitten in einer weiteren ausbildung zur projektmanagerin, die ich im herbst des jahres sehr erfolgreich abschloss.

aus beidem wurde nichts: weder fand ich feste arbeit, noch hielt der alte mann sein versprechen.

seit inkrafttreten der hartzIV-gesetze am 01.01.2005 gilt meine schöne aussicht 'amtlich' als 'unangemessen'. ebenso lange lege ich 'dem amt' ein attest, ein gutachten nach dem anderen vor zum nachweis dafür, dass aus gesundheitlichen gründen ein zwangsumzug für mich unzumutbar ist. dieses verfahren wird – je nach gusto des 'amtes' - jährlich oder halbjährlich wieder neu aufgelegt.

um dem nachdruck zu verleihen, wird die überprüfung meiner 'umzugsfähigkeit' vom amt gerne auch mal mit einstellung aller zahlungen kombiniert. oder mit der auflage, die arbeitslosenhilfe monat für monat neu beantragen zu müssen, weil sich mein gesundheitszustand ja zwischenzeitlich bessern könnte.

natürlich ist das gegenteil der fall: die schreiben des amtes versetzen mich regelmäßig in angst und schrecken, ich reagiere mit stärkeren depressionen und schlimmerem. diesen entsetzlichen druck auszuhalten, ohne wieder alkohol zu trinken, wird immer schwieriger.

ich bin heute nur noch ein verzeifelter, heulender schatten der lebensmutigen und zuversichtlichen frau, die vor sieben jahren in diese wohnung einzog.

durch den druck ruiniert 'das amt' nicht nur meine gesundheit, sondern es produziert auch zusätzliche kosten: häufigere arztbesuche, atteste, gutachterliche überprüfungen, mehr medikamente, längere krankschreibungen, gerichtsgebühren, anwaltshonorare, porto-kopien-und-fahrtkosten, zusätzliche therapeutische sitzungen, sogar ein klinikaufenthalt im vergangenen jahr und damit unnötige verlängerung meiner erwerbsunfähigkeit sind teure folgen der amtlichen schikanen.

dem 'amt' aber ist das schnurzepiep. es will einen teil meiner miete einsparen. wenn das an anderer stelle anderer leute geld kostet oder meine gesundheit (und damit mein leben) ruiniert – dann ist das egalegalegal.

das derzeitige verfahren zieht sich nun schon ein knappes halbes jahr hin. einen tag vor dem jahreswechsel erhielt ich am 30.12.2010 die amtliche mitteilung, dass nun alles wieder neu aufgerollt wird. seitdem habe ich keine ruhige minute mehr. angst und panik ziehen mir den letzten boden unter füßen weg – und der war ja im herbst des vergangenen jahres ohnehin schon sehr dünn und brüchig.

mit der maßgeblichen beurteilung, ob mir ein umzug zumutbar ist oder nicht, wird regelmäßig der ärztliche dienst der arbeitsagentur beauftragt. je nachdem, welcher arzt gerade dienst hat, ist immer jemand anders zuständig.

diesmal habe ich es zu tun mit einem doppelten doktortitel: dr. med. dr. med. vet.! dieser tierarzt aus rostock, den in mecklenburg-vorpommern scheinbar nicht mal mehr die schweine* wollten, ist wohl gerade noch gut genug, um westdeutsche arbeitslose zu begutachten. jedenfalls scheint er all seinen frust, dass er als arzt in der zone gescheitert und nun im badischen arbeitsamt gelandet ist, an multipel traumatisierten wessis auszulassen:

der dr.dr. hat sich schriftlich per fragebogen ein paar angaben zu meinem allgemeinen gesundheitszustand beantworten lassen. einmal von mir, einmal von meiner ärztin. weder hat er die mich behandelnde fachärztin zu ihrer einschätzung meiner „umzugsfähigkeit“ befragt, geschweige denn hat er mich einmal persönlich eingeladen und begutachtet.

der dr.dr. entscheidet alles auf dem geduldigen papier, ignoriert sämtliche atteste von mich schon seit jahren behandelnden menschen und tut nun so, als würden alle ärzte und ärztinnen, fachärzte und fachärztinnen und therapeutinnen und sogar die chefärztin der reha-klinik heiligendamm für mich lügen. er als 'sozial-mediziner' sei schließlich übergeordnet und er findet, dass einem zwangsumzug überhaupt nichts im wege steht.

amtsärzte sind unanfechtbare götter. ihre gutachten sind gesetz, ganz egal wie sie zustande kommen. es gibt keinerlei juristische handhabe.

'das amt' will also nun, dass ich – trotz gegenteilig lautender atteste – innerhalb kürzester zeit eine neue wohnung finde, die 45m² groß ist und maximal 275 euro kaltmiete kostet. wer den südwesten und die hiesige universitätsstadt kennt, der weiß, dass das eine kafkaeske aufgabe ist.

am wochenende erhielt ich vom amt bescheid, dass meine volle miete für drei weitere monate übernommen wird, bis zum 30. september 2011. ein kleines aufatmen.

meine befürchtung war, dass schon am monatsletzten (also in 10 tagen) schluss sei, dass ich dann meine miete nicht mehr zahlen kann und demnächst obdachlos werde. insofern gibt es eine letzte gnadenfrist. es ist noch längst nicht wieder gut. aber es ist mal für einen kleinen augenblick weniger schlimm.

all denen, die mich persönlich kennen und sich fragen, warum ich mich lange nicht gemeldet habe – und denjenigen, die sich wundern, dass ich hier in den vergangenen monaten nur noch so wenig schrieb - das ist die antwort:

es ging mir im herbst beschissen. ich wusste gar nicht, dass eine steigerung dessen noch möglich war. aber jetzt geht es mir noch schlechter.

die angst lähmt mich. ich habe keine kraft mehr, bin nur noch mit überleben beschäftigt, setze vorsichtig einen fuß vor den anderen. stürze, stehe wieder auf und versuche, nicht allzusehr in alte selbstschädigende muster zurückzufallen oder gar neue zu entwickeln. es gelingt mir nicht immer, ich entgleise mir oft.

eines aber gelingt mir doch, und dafür bin ich unendlich dankbar: ich bin ohne alkohol. tag um tag, meiner würde wegen.

nicht genug zu verdienen, nicht allein für den eigenen lebensunterhalt sorgen können, das ist schon schlimm genug. aber auch noch zum umzug gezwungen bzw. geradewegs in die obdachlosigkeit gedrängt zu werden und damit auch noch die allerletzte sicherheit zu verlieren - das ist die hölle.

dennoch bin ich entschlossen zu kämpfen und werde versuchen - wenn nötig - auch das bei lebendigem leibe und ohne drogen auszuhalten.

hartzIV ist folter. vielleicht sollten wir alle mal dem herrn clement unsere rechnungen schicken.


ps.
* ich bitte an dieser stelle alle schweine und ganz mecklenburg-vorpommern um verzeihung für diese entsetzlich abwertende bemerkung, die ich nur im bezug auf den dr.med.dr.med.vet. ernst meine. das ist vielleicht die schlimmste aller folgen von harz4: dass es so kränkt, so demütigt - so krank und so verbittert macht.

--------

Related Posts Plugin for WordPress, Blogger...