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Januar 2021

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Mittwoch, 11. August 2010

auf dem dach

da sitzt die möwe jeden abend und auch tagsüber ganz oft, immer an derselben stelle und lacht sich eins über uns tränentrinen auf der dachterrasse in der vierten kliniketage.


anfangs dachte ich, es sei eine lachmöwe. aber das ist sie oder er wohl nicht – auch wenn es sich für mich so anhört. aber sie sieht anders aus als die lachmöwen auf den bildern im internet. da ich von möwen bislang keine ahnung habe, erkenne ich die art nicht. gibt es eineN möwInnen-expertIn unter meinen geneigten leserInnen? dann bitte her mit der auflösung!

ich mag dieses lachen von hoch oben, über allem: es relativiert die dinge hier unten. mir hilft es jedenfalls, meine angelegenheiten für angemessen wichtig oder unwichtig zu halten, je nachdem.

die möwe mit ihrem heiteren schnabel bringt mich regelmäßig zum grinsen, ich mag sie sehr. andere mögen sie nicht so sehr und versuchen, ihr die lachenden rufe zu verbieten, indem sie in die hände klatschen und laut „kschscht-kscht“ rufen. in meinen ohren ist das sehr viel unangenehmer als ein möwenruf.

die möwe übrigens schert sich herzlich wenig um ihre menschlichen kritikerInnen. es bringt sie eher dazu, sich noch ein paar kumpel einzuladen auf ihren dachausguck – und dann lachen sie im chor. hahhah!


heute bin ich seit zwei wochen hier. allmächlich fügt sich das, was „mit mir passiert“, zu einem bild. therapeutische puzzlesteinchen wachsen ineinander. da ich selbst mitten drin bin im prozess, ist es nicht leicht, einen schritt zurückzutreten und mich von außen zu betrachten, mir selbst zuzuschauen.

dennoch will ich das ein bißchen versuchen, weil ich selbst neugierig bin. wieder einmal bin ich mein eigenes überraschungspaket. keine ahnung, was drin ist. keine ahnung, wo es hingeht.

die diagnose PTBS, von der ich anfangs etwas überrumpelt war, wird hier sehr ernst genommen. ich darf alles in meinem tempo machen. wann immer ich das gefühl habe, dass mir etwas zuviel wird oder zu nahe geht, darf ich stop sagen. miteinander testen wir meine grenzen. mir scheint, das gesamte klinikpersonal ist daran beteiligt. manche sicher, ohne es zu wissen.

das lässt mir viel verantwortung – aber ich muss nicht mit allem alleine klarkommen. wann immer ich unterstützung brauche, ist jemand da. wenn nötig, wird schnellstmöglich ein termin gemacht mit der mich betreuenden ärztin und therapeutin. meist innerhalb weniger stunden.

ich fühle mich aufgehoben. die ärztin spricht alles direkt an, ungeschminkt – aber niemals respektlos. niemals von oben herab. immer authentisch. immer wohlwollend. das hilft mir sehr. stück für stück kann ich vertrauen, kann ich mich auch mal abgeben und folge ihren ideen gerne.

heute sagte sie mir, dass sie nicht davon ausgehen würde, dass ich diese klinik nach sechs wochen als geheilt verlassen würde. wir könnten versuchen, damit zu beginnen, mich ein stück weit zu stabilisieren. aber auch das würde länger dauern, ich solle geduld haben, nicht zu viel erwarten. weder von mir noch von anderen.

ziel sei, mich möglichst bald nach der reha in eine ambulante traumatherapie zu vermitteln. neue perspektive! auch wenn mir niemand versprechen kann, dass das erfolg haben wird.

sie sagte heute: ein trauma, das sich über so viele jahre (seit meiner frühen kindheit) hinweg aufgebaut – und in teilen auch mehr als einmal wiederholt - hat, sei nicht einfach zu behandeln. d'accord. also darf ich aufhören, mich selbst zu stressen und kann allmählich entspannnen.

leider gibt die rentenversicherung als träger vor, dass täglich mindestens vier anwendungen oder therapien stattfinden müssen, damit die rehab als ebensolche anerkannt und bezahlt wird. das zerhackstückt meinen tag.

sportliches, entspannendes, besprechendes, psychologisches, informierendes und nährendes wechseln sich ab von acht bis 16 uhr. dazwischen pausen bis ca. 60 minuten. warten und starten, immer abwechselnd. das ist für mich anstrengend. der viele leerlauf ist ermüdend. therapie mit angezogener handbremse.

meine lieblingsanwendung „klimatherapie“ steht täglich im plan, auch am wochenende – und wird duchgeführt durch selbständige „Bewegung in der Uferzone“ am „Ostseestrand“. sehr schön!

leider reicht die zeit kaum dazu, das mal in ruhe zu machen, weil zwischen zwei „therapien“ und/oder den eng gesteckten mahl-zeiten selten mehr als eine stunde pause ist und es sich daher wegen der langen umwege um das eingezäunte grand hotel bis ans meer nicht lohnt. kaum bin ich dort und höre endlich das meeresrauschen, das in ausreichend lang anhaltender dosis meinen tinnitus besänftigen könnte, muss ich auch schon wieder zurück zackzack!

ständig muss ich auf die uhr gucken. das ist doof. das trägt nicht zu meiner entspannung bei. ich muss andere wege finden!

zwischenzeitlich kriege ich einen richtigen hass auf diesen geldadeligen hotelzoo hinter edel-gittern. wenn karasek, joschka fischer, geissen und plathe dort doch wenigstens auch richtig eingesperrt wären …. aber nein! sie dürfen raus! ich muss ihnen auf der promenade ins gesicht sehen und werde schier grün vor lauter neid, weil die den kurzen 90-sekunden-weg ans meer nehmen dürfen und ich nicht.

dann wieder grinse ich mir eins und denke mir wie gut ich das doch habe, dass ich hier nicht nur ein, zwei nächte in heiligendamm bin, sondern satte sechs wochen. also hat so'n ollet trauma dann ooch auch mal wat jutet.

da lacht die möwe wieder! alles in allem bin ich froh und sehr dankbar, dass ich hier sein darf.


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