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Donnerstag, 24. Juli 2014

Loveparade 2010

Vier Jahre ist das heute her: Zuerst hörte ich die News im Radio, dann sah ich sie im Fernsehen, im Internet: Massenpanik bei der Loveparade in Duisburg. Viele Tote, noch viel mehr Verletzte.

Auch heute kein Ausweg:
Der Pfad ins Licht endet an einem Zaun.

Es war ein Samstag. Nur wenige Tage vorher war ich – wieder einmal – arbeitslos geworden und war beschäftigt mit den letzten Vorbereitungen für einen bevorstehenden Klinikaufenthalt. Sechs Wochen sollte ich an die Ostsee fahren. Wegen Tinnitus und Kopfschmerzen, wegen Depressionen, wegen Burnout, wegen posttraumatischer Belastungsstörung. Ich hatte darum gekämpft, freute mich sogar darauf und konnte noch nicht ahnen, dass es mir hinterher schlechter gehen würde als vorher.

Ich hörte beim Kofferpacken die Nachrichten und konnte doch nicht verstehen, was und wie passiert war. Loveparade. Hm. In Duisburg? Hm.

Anfang der 1990er Jahre hatte ich die Anfänge der Loveparade in Berlin auf dem Kurfürstendamm miterlebt – dieses kleine liebenswerte Spektakel.

In den späteren, etablierten Jahren der Loveparade habe ich die kommerzialisierte Massenveranstaltung gemieden bzw. weiträumig umfahren. Das interessierte mich nicht. Es war nicht meine Musik. Es war zu laut, zu viele Menschen auf einen Haufen, zu heiß.

Regelmäßig am Sonntagmorgen danach fuhr ich mit dem Rad durch meinen geliebten Tiergarten und war entsetzt über den Gestank nach Fäkalien und Alkoholika, die Massen an Müll und untoten durchgeknallten Partyleichen, die zerstörten Wiesen, Beete, Bäume, Hecken.

Am Schlimmsten aber war mir die Totenstille. Kein einziger Vogel war zu hören – als seien sie allesamt tödlich getroffen durch das Dröhnen der Bässe von den Bäumen gefallen.

Jahr für Jahr musste der Tiergarten quasi neu angelegt werden. Ich habe die Loveparade jener Jahre gehasst – und war froh, als sie in Berlin nicht mehr stattfinden durfte.

Meine Meinung dazu war schlicht: Wer den Dreck macht, soll ihn auch wegräumen bzw. die Kosten übernehmen für dessen Beseitigung und die Wiederherstellung der Schäden. Wer Party will, muss auch die Konsequenzen tragen und darf das Ganze nicht verlogen als „Friedensdemo“ deklarieren, um Geld zu sparen.

Aber nun Duisburg. Wie kam die Loveparade da plötzlich hin? Das war völlig an mir vorbeigegangen, war mir so schnurzepiep wie Babynahrung: Zwar irgendwo vorhanden und für manche anderen Menschen vielleicht wichtig, berührte mein Leben aber nicht.

Ich sah Duisburg vor Augen. Düsterstes Duisburg meiner traurigen Kindheit. Dunkelschwarz rußverschmutzt und regennassgrau. Die schlimmsten Zeiten, die bösesten Verletzungen hatte ich in Duisburg erlebt. Flashback.

Die Treppe, die für manche Rettung und
für andere eine tödliche Falle war

Den Karl-Lehr-Tunnel erinnerte ich. Der war schon immer finster. Lang und düster. Voller Gefahren. Laut und ohne Zuflucht. Dunkle Straße. Unheimlich. Kaum Licht. Zu viele Autos, die gnadenlos vorbeirumpelten.

Warum waren da jetzt Menschenmassen, um Musik zu hören und zu feiern? Unvorstellbar. Das passte einfach nicht zusammen. Der Karl-Lehr-Tunnel war in der Erinnerung meines inneren Kindes ein Ort, an dem das Wort „Sommerparty“ nicht stattfand, keinen Platz hatte – und ist es bis heute.

Ich sah die Berichte im Fernsehen, fand Berichte und Videos von Augenzeugen im Internet. Am eindrücklichsten, am verstörendsten waren die Filme von "Pizzamanne". Es war schrecklich, nahm mich mit, ich sah es mir trotzdem immer wieder an.

Auch noch, als ich schon längst in der Klinik war. Es schien meine eigenen Katastrophen zu relativieren, wenn ich mit den Opfern der Duisburger Loveparade fühlte und litt, mit den Überlebenden, den Familienangehörigen und Freunden.

Gleichzeitig gab es mir das Gefühl, mit meinem endlosen Schmerz, für den es in meinem Leben sonst weder Ort noch Zeit noch Raum gibt, nicht ganz alleine zu sein.

Es ist ein Paradox, und so schrecklich das klingen mag: In dieser Zeit war ich eine Trittbrettfahrerin des Schmerzes.

Es hat eine Weile gedauert, bis ich mir auf die Schliche kam. Es ist eine Methode, die ich nicht nur dieses eine Mal angewendet habe. Es scheint fast so, als würde der eigene Schmerz nicht ausreichen, um angenommen und betrauert zu werden. Als würde man einen Verstärker brauchen. Eine Art von offiziell anerkannter Wunde, weil man mit dem eigenen Schmerz niemandem mehr kommen darf, nirgendwo ernst genommen und erst recht nicht getröstet wird.

Im vergangenen Februar hatte ich die Gelegenheit, mir die Gedenkstätte für den 24. Juli 2010 in Duisburg einmal anzusehen. Ich war lange dort und habe versucht, mir die Situation damals vorzustellen. Es ist mir nicht ansatzweise gelungen.

Gleichzeitig hatte ich das Bedürfnis, mich an diesem Ort bei den Opfern zu entschuldigen. Weil ich mir ihren Schmerz zu eigen gemacht habe. Unberechtigterweise.

Bis heute verstehe ich nicht, dass die Hauptverantwortlichen keine Verantwortung für das große Unglück übernommmen haben:

Veranstalter Schaller, der mit der Loveparade sein Geld verdient hat. Und Bürgermeister Sauerland, der die Loveparade unbedingt in seiner Stadt haben wollte. Mag sein, juristisch ist ihnen nicht beizukommen. Aber darum geht es nicht. Moralisch, menschlich haben in meinen Augen beide versagt. Durch ihr ignorantes Schweigen, ihr feiges Abtauchen und rückgratloses Wegducken haben sie alles nur noch schlimmer gemacht.

Natürlich bin ich nicht in der Position, zu richten. Es geht auch nicht um Rache oder Wiedergutmachung für etwas, das niemals wiedergutzumachen ist. Mit den Folgen ihrer Un-Taten müssen die beiden Herren alleine fertig werden.

Letzter Trost: Die Teddy-Zwillinge

Als ich im Februar dort war, hat es geregnet. Es war so grau, wie Duisburg eben grau sein kann. Ich hatte mein inneres Kind an der Hand, sie stand lange vor den Teddybären und den Blumen. Dann sah sie mich an und sagte „Hier war das nicht. Komm ich zeig's dir.“ Dann sind wir zum Bahnhof gelaufen und nach Ruhrort gefahren.

So habe ich es wieder auseinandersortiert: Den eigenen alten Schmerz habe ich mit dem Kind angesehen, an den anderen Orten. Dazu – vielleicht – ein andermal mehr.

Den aktuellen Schmerz darüber, dass in unserer Zeit Vergnügungs- und Profitgier auf Kosten von Menschenleben stattfinden, den habe ich in der Lücke im Karl-Lehr-Tunnel betrauert. Den überlebenden AugenzeugInnen, den überlebenden Verwandten und FreundInnen der Opfer gilt mein ganzer Respekt sowie großer Dank dafür, dass sie diesen Ort des Gedenkens gegen viele Widerstände geschaffen haben.

Es ist ein wichtiger Platz geworden von großer Symbolkraft, die weit über die einzelnen Schicksale aller, die von der Katastrophe Loveparade 2010 betroffen waren und sind, hinausreicht.

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