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Mittwoch, 9. Juni 2010

nachtschaden

wenn die nächte nicht zu kalt sind, schlafe ich bei offener balkontüre. nachts ist mein dorf für gewöhnlich himmlisch friedlich, mal abgesehen von den kirchenglocken alle viertelstunde.


neulich, in der nacht von sonntag auf montag, wurde ich wach von lautem grölen, das - erst unverständlich - näher kam und lauter wurde. normalerweise baue ich solche ‚nächtlichen störgeräusche‘ in meine träume ein, um nicht aufwachen zu müssen.

ich träumte also fußballplatz nach dem spiel und besoffene männer im siegestaumel. mir war nicht wohl im traum, denn ich finde alkoholisierte kerle nicht angenehm. die schlachtrufe wurden immer deutlicher, und es hörte sich so an wie „sieg heil, das ist geil, wir besiegen die juden und andere völker“.

mir wurde bang, ich fühlte mich bedroht und wachte auf mit herzklopfen. der traum war weg – aber das grölen blieb. flaschen klirrten. da zog ein ganzer trupp die nächtliche dorfstraße entlang. laut. ich hatte den text nicht bloß geträumt! dreiviertel drei schlug die turmuhr. ansonsten totenstille.

ich zog mir was über und ging raus auf den balkon. erkennen konnte ich nichts und niemand. licht mochte ich nicht machen vor angst, gesehen zu werden. ich weiß, dass das nicht logisch ist.

meine angst ist niemals logisch, aber sie sitzt tief. bloß nicht auffallen! nichts falsches sagen, nichts falsches tun in der öffentlichkeit – sonst kommen sie und holen dich in der nacht! in meiner erinnerung mischen sich geschichtsfetzen mit den kriegserzählungen der mutter. ich bin das kind einer traumatisierten generation, und ich habe diese angst geerbt.

die mutter war ein teenager damals. süße siebzehn bei kriegsende. sie hat überlebt mit dem was sie am leib hatte, sonst nichts. viel erzählt hat sie nie, vielleicht habe ich auch die falschen fragen gestellt. wir hatten ja ohnehin kein besonders gutes verhältnis zueinander.

in erinnerung geblieben ist mir vor allem ihre schilderung vom tod ihres vaters: mein großvater war zuckerkrank und musste regelmäßig zur behandlung in ein krankenhaus. diabetes war in den 40er jahren des vorigen jahrhunderts weitaus schwieriger zu behandeln als heute.

das hospital war katholisch, wurde von nonnen geführt, und so lange ging wohl immer alles gut. dann wurde das krankenhaus von nazis übernommen. kurz darauf starb ihr vater in der klinik. man habe ihm aus versehen nach der insulinspritze statt zucker eine weitere dosis insulin gegeben. ein bedauerliches mißgeschick.

der verdacht der familie ging dahin, dass die falsche spritze kein versehen war, sondern absicht. nachzuweisen war gar nichts. es bleibt im vagen, verschwommenen. der großvater taugte nicht als soldat und nationalsozialistisches kanonenfutter. er war unheilbar krank.

damals war das eben so. die mutter erzählte diese geschichte immer ganz ungerührt, als ob es gar nicht um ihr eigenes leben ging, sondern um jemand anderen. die gefühle im bunker verschüttet. therapeutische unterstützung kannte nach dem zweiten weltkrieg niemand. nicht aufarbeitung, sondern wiederaufbau hieß die devise.

der großvater mütterlicherseits gehörte damals in die kategorie „nicht lebenswertes leben“. ich hatte immer angst, dass ich auch ‚so eine‘ bin. „wenn du nicht brav bist, dann holen sie dich!“ war ein standardspruch in meiner kindheit. wer hat das gesagt? die mutter? der vater? die großmutter? der stiefgroßvater? ich erinnere nur das gefühl, und diese angst ist mir bis heute geblieben.

ich bin nirgends sicher. nicht einmal im eigenen bett. da erst recht nicht! an eine nacht ohne alpträume kann ich mich gar nicht erinnern. solange das nur träume sind, wenn auch schlechte – komme ich damit schon irgendwie klar.

aber was ist, wenn du wach wirst, und der alptraum geht einfach weiter?! was ist das für eine welt? was ist das für ein dorf, in dem ich hier lebe? wo nachts nazis (oder nazi-ähnliche!?) unbehelligt grölend durch die straßen ziehen?

hab keine angst, mein kind, es ist alles gar nicht so schlimm wie es aussieht. das meiste ist viel schlimmer!

was ist das für ein leben, wenn es sich bei lebendigem leib anfühlt wie ein immer währender alptraum? meine größte hoffnung ist die, eines morgens wachzuwerden, die sonne scheint, neben mir ein friedlich schnarchender geliebter mensch und alles ist gut - all die jahrzehnte von angst und schmerz und einsamkeit und trauer, das war nur ein böser böser traum. so ist das aber nicht. der böse traum geht einfach immer weiter.

ich habe lange nicht wieder einschlafen können am montag morgen.


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