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Freitag, 9. Mai 2014

Heimatlos

Wenn ich aus den Fenstern meiner Dachwohnung schaue, sehe ich blühende Landschaften. Rundum. Derzeit blühen die Reben. Eher unscheinbar und grün, aber sie blühn. Quadratkilometerweise. In den Haus- und Gemüsegärten des Dorfes, in den Balkonkästen und Terrassenkübeln blüht alles, was die Natur hergibt. Rosen und Akelei, Iris und Flieder, Ringelblumen und Männertreu, Geranien, Schöllkraut und Kartoffelstrauch. Schön. Und bunt.

Jesus - der genagelte Mann

Ich lebe in einem optischen Paradies. Als ich vor mehr als zehn Jahren aus der Großstadt hierher aufs Land zog, war es genau das, was ich haben wollte. Die vogelzwitschernde Blümchenidylle.

In Berlin war mir alles zu viel gewesen: Zu viele Menschen. Zu viele Autos. Zu viele Häuser. Zu viel schlechte Luft und zu viel schlechte Stimmung. Zu viel Armut und zu viel Hundekot auf den Straßen. Die kontinuierliche Überflutung an Sinneseindrücken, die allgegenwärtige Zu-viel-isation überforderte mich. In all dem Überfluss war ich schon längst nicht mehr zu Hause.

Zudem hatte ich ständig das Gefühl, etwas zu verpassen. Ich war unzulänglich, den Anforderungen der Millionenstadt nicht gewachsen. Viel zu groß war das kulturelle Angebot. Selbst wenn ich jeden Abend ins Theater, ins Kino, ins Konzert gegangen wäre – einmal vorausgesetzt, ich hätte die persönlichen und finanziellen Möglichkeiten dazu gehabt – so hätte ich doch für jede besuchte Vorstellung mindestens zwei Dutzend andere nicht erleben können.

Ich war vierzig. Ich hatte den Dalai Lama interviewt und zweierlei Teuf(f)el. Viel mehr würde nicht kommen. Da konnte ich auch Holz aufsammeln im Wald. Hauptsache, der Job hielt mich einigermaßen über Wasser und die KollegInnen wären nett. Ich packte meine Lebens-Mittel-Krise und die zwei Katzen in einen Korb und zog in den Süden, in ein Zweieinhalbtausend-Seelen-Winzerdorf.

Wie war ich froh, angekommen zu sein! Ich wollte endlich sesshaft werden und erkundigte mich sogar, ob ich katholisch werden muss, um auf dem Gemeindefriedhof begraben werden zu dürfen.

„Hier ist es so schön ruhig, es gibt noch nicht einmal eine Ampel“, schwärmte ich einer Freundin vor.
Sie runzelte die Stirn und fragte freundlich zurück: „Wie kommst du denn dann über die Straße?“ 
„Ich gehe einfach immer im Kreis“, antwortete ich ebenso so freundlich. Dann grinsten wir uns an und brachen beide in schallendes Gelächter aus.

Das Lachen sollte mir bald vergehen. Der ampelfreie Frieden wurde zur tödlichen Friedhofsruhe. Weil die Idylle nur optisch ist. Die reine Fassade.

Es gibt nichts im Außen, das einen ablenkt. Nur Lärm und Gestank von Weinbergstrekkern, Heimwerkerterroristen, Rasenmähern und Laubgebläsen. Weil es auch abends nichts zu tun gibt, werden schon pünktlich zur Tagesschau die Gehsteige fein säuberlich gekehrt und nach oben gefaltet. Das Leben hat hier wenig Platz. 

Weil draußen nichts los ist, über das die Menschen lachen oder zumindest lästern könnten, sitzen sie hinter ihren Fassaden und belauern sich gegenseitig. Ich habe hier noch niemals jemanden herzlich lachen hören. In all den Jahren nicht. Höchstens mal ein verkrampftes, schadenfrohes Wiehern war zu vernehmen oder ein verkniffenes Grinsen aus lippenlosem Mund zu beobachten.

Wehe, ich mache mal einen Scherz oder habe meinen Spaß einfach so – das wird sofort misstrauisch beargwöhnt. Als ob man neidisch wäre und mir mein Lachen nicht gönnt.

Das ist schrecklich. Ich lebe in einem klimatischen Paradies. Fruchtbarer Boden weit und breit. Keine Naturkatastrophen. Man könnte hier einfach glücklich sein.

Aber nein. Irgendwie lassen sie einen nicht. Die Menschen in ihrem totalitären Glauben sind schlimmer als jeder Vulkanausbruch, jedes Erdbeben es jemals sein könnten. Überall hängen sie einen zu Tode leidenden Mann am Balkenkreuz auf, seine Schmerzen sind unübersehbar. Alle paar hundert Meter hängt einer in den Reben oder sonstewo. Und stirbt!

Hängt es damit zusammen, dass mir hier das Lachen im Halse stecken bleibt? Weil es sich nicht schickt, im allgegenwärtigen Angesicht von Leid und gewaltsamen Tod fröhlich und unbeschwert zu sein? Darüber wachen sie. Schmallipppig und freudlos. Bloß nicht zu laut gelacht. Höchstens mal wohlerzogen gelächelt. Gute Laune? Durch verkrampftes Grinsen zu Tode dressiert. Es ist schlimmer als auf einer Beerdigung.

Sind die Menschen, die diesen Toten immer wieder neu ans Kreuz nageln, nicht mindestens genau so brutal wie diejenigen, die ihn vor bald zweieinhalb Jahrtausenden in echt haben sterben lassen? Was ist das für eine Gesellschaft, in der die Lebendigen wegen der längst Toten leiden müssen und nicht einmal mehr lachen dürfen?

Was habe ich mit den Ungerechtigkeiten der Geschichte zu tun?

Ich habe nicht nur meine Anpassungsfähigkeit an das katholische Spießertum überschätzt, sondern auch meinen Anpassungswillen. Denn dass auch mir selbst hier das Lachen vergehen würde, dass mir gar die Lebensfreude abhanden käme im Lauf der Jahre, damit hatte ich nicht gerechnet.

Weil das so ist, laufe ich große Gefahr, selbst zur biestigen, verkniffenen und verbissenen Alten zu werden. Das will ich natürlich nicht. Weil ich das nicht bin. Weil ich mich so nicht einmal mehr in mir selbst noch zu Hause fühle.

Ich muss fort. Woanders hin. Hier bin ich nicht zu Hause, hier stehen nur meine Möbel. Meine Seele ist verschollen im optischen Paradies.

„Zu Hause“ fühle ich mich nur, wenn ich auch lachen darf. So richtig: mit zurückgelegtem Kopf und von ganz tief unten aus dem Bauch heraus. Schallend.

Heimat ist kein Ort. 

Heimat ist da, wo ich die sein darf, die ich bin. Lebendig, mutig, neugierig, klug, zuversichtlich – und lachend.

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