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Mittwoch, 29. Mai 2013

mein #aufschrei

manchmal wühlen die geschehnisse im außen mich innerlich so sehr auf, dass ich nicht einmal mehr meinen namen weiß. dann brauche ich sehr lange, um mich zu sortieren – bevor ich mich dazu äußern kann.

die diskussion um sexuelle belästigung, der twittersturm um den hashtag #aufschrei – das habe ich intensiv verfolgt, es hat mich getroffen und gelähmt.

Regenbogen im Weinberg

als ich neulich bei emma erfuhr, dass Alice Schwarzer ein neues buch herausgegeben hat - ES REICHT! - über und gegen sexuelle belästigung im beruf, da habe ich gedacht: hui, da waren die aber schnell. schon ein buch fertig, während ich immer noch mit sortieren und der besänftigung meiner trauma-flashbacks beschäftigt bin.

eine der autorinnen in ES REICHT! ist Anne Wizorek, die mit dem hashtag #aufschrei im januar 2013 die dokumentation alltäglicher sexismen gegen frauen bei twitter initiert hatte. #aufschrei ist nominiert für den Grimme Online Award  2013. bitte geht wählen! die abstimmung läuft bis einschließlich donnerstag, 13. Juni 2013.

auch der artikel über brüderles „altherrenwitz“ ist schon fast fünf monate her. die diskussion darum war unerträglich - frauenfeindlich! woher kommt so viel hass der männer auf frauen, die sich nicht alles gefallen lassen? ich habe damals den artikel der kollegin Laura Himmelreich im gedruckten Spiegel gelesen - fand ihn gut und angemessen. Sie hat einfach nur getan, was eine gute journalistin tun muss: sie hat laut gesagt bzw. geschrieben, was ist.

mir hat die debatte schier körperlich wehgetan. entsetzt stellte ich fest, dass alltagssexismen gegen frauen seit meiner jugend nicht weniger geworden sind, sondern unverändert bestehen und durch die neuen medialen möglichkeiten sogar härter geworden sind. schlimmer noch: dass eine diffuse mehrheit sie für normal und nicht weiter beklagenswert zu halten scheint.

als ich achtzehn, neunzehn jahre alt war, glaubte ich tatsächlich an das, was wir in der schule lernten. an das grundgesetz zum beispiel: männer und frauen sind gleichberechtigt. meine eigene geschichte hatte mich zwar schon eines anderen belehrt, aber ich war weltmeisterin im verdrängen und wollte das sehr gerne glauben!

1980 wohnte ich in der kölner südstadt, las die noch junge emma im abo. die redaktion war nicht weit weg, quasi um die ecke. nie hätte ich gewagt, bei diesen tollen starken frauen anzuklopfen und vorzuschlagen, dass ich vielleicht auch gerne mal was schreiben würde. ich war doch viel zu schüchtern, viel zu unsicher, viel zu klein.

aber ich glaubte fest daran, dass das mit der abschaffung der sexuellen belästigung nicht mehr lange dauern könne: blöde sprüche im bekanntenkreis? ekliges getatsche in der disco? aufmunternde pfiffe aus dem untergrund der straßenbauarbeiter? das hört sicher bald auf. wir hatten ja das grundgesetz. und die emma.

es hörte nie auf. ich bin sehr froh, dass junge frauen heute – mehr als dreißig jahre später - wagen, sich öffentlich dagegen zur wehr zu setzen. bei mir hieß es damals „du willst es doch auch.“ oder „nu sei doch nicht so empfindlich.“

ich bin aber nun mal „empfindlich“, wenn andere versuchen, mich respektlos zu behandeln, zu demütigen und herabzusetzen, wenn andere mich kleinhalten, meine grenzen mißachten und ihr spaß auf meine kosten geht. erst recht bin ich indigniert, wenn sie dann auch noch versuchen, meine gegenwehr auf die weibchenschiene zu schieben und mich für hysterisch erklären.

so hat der #aufschrei also mein ganzes altes geschichte* durcheinandergebracht, ebenso wie zuvor die brutalen vergewaltigungen in indien, die genitalverstümmelung bei islamischen mädchen und frauen. es ist, als ob der schmerz jeder einzelnen durch meinen körper geht, weil ich doch so vieles schon selbst am eigenen leib erfahren habe.

auch im frühjahr 2010 war ich entsetzlich aufgewühlt, als endlich die vielen missbrauchsskandale in kirchlichen einrichtungen ans licht kamen. seither vergeht kaum ein tag, ohne dass mir nicht mehrfach ein ausdruck wie „sexueller missbrauch“ zu ohren kommt oder unter die augen tritt.

jede einzelne erwähnung ist ein trigger, jedes mal eine erinnerung an die katastrophen meiner kindheit und jugend, jedes mal wieder habe ich den geschmack von sperma, blut und kotze im mund. seitdem ich fünf bin. jahrzehnte hinweg hatte meine seele das gut verdrängt, um überleben zu können.

früher hat dann immer ein schnaps geholfen. als abstinente alkoholikerin kann und will ich mir das aber nicht mehr leisten.

die therapeutInnen haben im lauf der jahre meine alten kindheitserinnerungen hervorgezerrt und mich dann damit allein gelassen. seitdem werde ich diesen ekligen geschmack gar nicht mehr los. in der reha-klinik heiligendamm 2010 habe ich erstmals von einer therapeutin gehört, dass ich hochgradig komplex und multipel traumatisiert sei. aha. danke schön. und jetzt?! „wickeln sie sich ein gummiband ums handgelenk und schnippen Sie dran.“ aha. es hilft nicht!

seit so vielen jahren habe ich diesen schrecklichen geschmack im mund. täglich. und weiß nicht, was ich dagegen machen soll. manchmal möchte ich mir am liebsten den mund mit einer rasierklinge ausschaben. das geht natürlich nicht. mein aufschrei bleibt unerhört.

es will mir nicht in meinen krausen kopf, warum in unserer angeblich 'zivilisierten' welt gewalt und feindlichkeit gegen frauen und mädchen immer noch alltäglich sind und noch dazu in vielen varianten immer noch als kavaliersdelikt gelten. dass macht mich wütend, und es macht mich verzweifelt. wir erleben sie täglich. alle. nur setzen die einen sich mehr, die anderen weniger damit auseinander.

Barack Obama, der präsident der US of A, sagte am 22. märz 2013 in Yad Vashem (Israel): „Hass in all seinen Formen ... hat keinen Platz in der zivilisierten Welt.“ - (im original: „For us, in our time, this means confronting bigotry and hatred in all of its forms, racism, especially anti-Semitism. None of that has a place in the civilized world -- not in the classrooms of children; not in the corridors of power.“ - Quelle: Weißes Haus, Washington D.C.)

er bezog es, da in Jerusalem, vor allem auf antisemitismus. es ist gut, dass er das gesagt hat, und es ist berechtigt. denn antisemitismus ist feindlichkeit gegen die angehörigen einer bestimmten religion, und das ist per gesetz nicht erlaubt.

feindlichkeit gegen frauen ist allerdings auch per gesetz nicht erlaubt. frauen leben auf diesem planeten mehr als juden.

es wäre also an der zeit, dass auch mal ein staatsoberhaupt von rang sagt „sexismus hat keinen platz in der zivilisierten welt.“ oder „für frauenfeindlichkeit ist in einer zivilisierten gesellschaft kein platz.“

was denkt ihr: wie lange wird das noch dauern? ich fürchte, es geht noch lange – und ich hoffe dennoch, dass ich das noch erlebe.


*ps.
das wort 'geschichte' benutze ich gerne im neutrum: weil es für mich bedeutet, dass viele verschiedene gelebte und erinnerte schichten von leben mehr oder weniger sortiert übereinander liegen. ich sehe das als bild, wie eine torte oder einen stapel papier: ein geschichte von vielen schichten eben.
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