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Donnerstag, 3. November 2011

dem kuckucksnest entflogen

notizen aus dem landeskrankenhaus . 2

anhand der überschrift könnt ihr's euch schon denken: ich habe die 'Klinik für psychosomatische Medizin und Psychotherapie' bereits wieder verlassen.

genau fünf tage lang habe ich es ausgehalten. in dieser zeit häuften sich die „ungereimtheiten“. geduld, wohlwollen und - ja! - auch neugier, die ich am anfang noch hatte, wichen immer mehr einem großen unwohlsein.


was mir im vergangenen jahr in der rehab in heiligendamm zu viel war – nämlich ein programm mit bis zu fünf verschiedenen therapien und terminen pro tag – gab es im landeskrankenhaus zu wenig: null therapie!

nach dem relativ kurzen aufnahmegespräch am ersten tag passierte nichts weiter, mal abgesehen von den gemeinsamen mahlzeiten und der 15-minütigen gruppenkurzvisite. ich hatte keine einzeltherapie, keine gruppentherapie, keine bewegungstherapie, auch keine sonstige 'freizeittherapie' wie kunst oder musik, töpfern oder seidenmalen. eine ganze woche lang. es gab noch nicht einmal ein gespräch darüber, welche art von therapie dort für mich überhaupt in frage kam. änderung der untätigkeit war also nicht in sicht.

ich war mir ganz selbst überlassen. zum glück finde ich es nicht weiter schwierig, mich allein zu beschäftigen und meinen tag möglichst sinnvoll zu verbringen. ich kann lesen, ich kann schreiben, ich kann spazieren gehen.

besonders letzteres tat ich dann auch ausführlich, es war ja schönes wetter. am tag meiner ankunft hatte ich noch hausarrest.

am zweiten tag marschierte ich auf dem klinikgelände, in dem schönen park unter den großen bäumen mit den freundlichen eichhörnchen, immer im ovalen rund. eine runde dauerte fünfzehn minuten. am ende hatte ich einen drehwurm und kannte jedes eichhörnchen mit namen.

am dritten tag marschierte ich vor dem klinikgelände, am bach entlang, immer auf und ab. die sonne schien mir ins gesicht und in den rücken, immer abwechselnd. in den tiefen meines mp3-players entdeckte ich musik, von der ich nicht einmal mehr wusste, dass ich sie jemals gespeichert hatte.

am dritten tag marschierte ich die berge hoch, immer weiter bis zur großen burgruine und wieder zurück. ich sah reiher fliegen und übers grüne feld staksen.

je weiter, länger und freier meine märsche wurden – desto schwieriger fiel es mir, in die enge, gedrückte klinikatmosphäre zurückzukehren. die vielen fremden menschen mit ihren traurigen gesichtern und anstrengenden geschichten überforderten mich.

der umstand, niemals wirklich allein sein zu können und immer unter beobachtung zu stehen, belastete mich von tag zu tag und von nacht zu nacht immer mehr. an runterkommen, an entspannung war nicht zu denken. die kopfschmerzen, der tinnitus und auch meine gereiztheit wurden schlimmer statt besser. ich war kurz davor, wieder rauchen oder trinken zu wollen.

zu zweit im zimmer (und das war schon die luxusvariante) kam ich nicht zur ruhe und schlief schlecht. wenigstens kam mir so ganz deutlich zu bewusstsein, dass ich zu hause wenigstens eines nicht habe: schlafprobleme. ich träume zwar regelmäßig schreckliches, schlafe aber ansonsten gut.

am vierten tag kam ich – oh wunder – in den genuss einer chefarztvisite und war angenehm überrascht. ich hatte fünfzehn minuten zeit, zu erzählen, wie es mir geht. dass ich tag für tag mit dem bleiben kämpfte, weil es nirgends ein echtes ausruhen gab. wir besprachen, dass es für mich sinnvoll sei, nur tagsüber zu kommen und die nächte zu hause zu verbringen, um dort kraft zu tanken und das erlebte verarbeiten zu können. eine variante, mit der ich gut leben konnte.

am nächsten – also meinem fünften - tag bislang therapiefreien aufenthalts sollte ich endlich die für mich zuständige ärztin und therapeutin kennenlernen und mit ihr dann alles besprechen für den status 'tagesklinik'. ich war erleichtert, hielt noch diese eine nacht durch, freute mich aufs wochenende zu hause. noch mehr solcher 'therapiefreier' tagen hielt ich für verschwendung sowohl meiner lebenszeit als auch von krankenkassengeldern.

der schock am nächsten morgen in der kurzvisite: die stationsärztin hatte scheinbar keine ahnung von dem, was in der chefarztvisite besprochen worden war. ich musste darum kämpfen, überhaupt noch einen gesprächstermin am gleichen tag, noch vor dem wochenende bei ihr zu erhalten. sie gestand mir 30 minuten zu.

aber auch in diesen dreißig minuten ging es nicht um meine therapie, sondern darum, dass ihrer meinung nach der status als tagespatientin für mich nicht in frage kam. dazu müsse ich vorher mindestens vier bis fünf wochen stationär behandelt werden. ich hätte es nicht einmal mehr vier bis fünf weitere tage ausgehalten.

ihrer meinung nach hatte ich den chefarzt falsch verstanden. sie rief ihn sogar an, angeblich. während des telefonats schickte sie mich aus dem zimmer.

als ich davon sprach, in der klinik keine ruhe zu finden, warf sie einen blick in meine akte, kriegte ganz große augen und rief entsetzt: „aber Sie nehmen ja gar keine medikamente!“ (und schien zu denken: „na kein wunder, dass die noch so aufmüpfig ist, das müssen wir mal schnell ändern....“)

ich hatte mit einigen mitpatientInnen gesprochen, hatte auch in den kurzvisiten vieles mitgekriegt. scheinbar war ich die einzige, die auf psychopharmaka verzichtete. bei den meisten anderen ging es hauptsächlich darum, ob und wie die medikamente wirken. das fand ich erschreckend.

in diesem augenblick jedenfalls knipste frau doktor ihr süßestes grinsen an und säuselte „versuchen Sie es doch einmal mit Lorazepam, und Sie werden erfahren, wie wohltuend die wirkung der medikamente sein kann ….“ - sie hatte die schachtel schon fast in der hand.

lorazepam. tavor. benzodiazepin. ich hörte imaginäre glocken läuten und sah dunkelrote lichter leuchten: altmodisches medikament zur ruhigstellung aus den 60er jahren des vorigen jahrhunderts. lange halbwertszeit. höchstes suchtpotential. stark sedierend. macht dick, dumm und dumpf.

„das geht mir zu schnell. ich möchte kein medikament nehmen, bevor ich nicht mehr darüber weiß.“ frau doktor sah auf die uhr: „das ist kein problem. ich habe noch zehn minuten zeit, da können wir das ganz ausführlich diskutieren.“

örx. saß ich in der klemme? „ich glaube nicht, dass es ein medikament dafür gibt, dass ich die situation hier besser aushalten kann. selbst wenn, dann scheint es mir nicht sinnvoll, hierzubleiben, wenn ich das nur unter dem einfluss starker medikamente ertrage.“

sie versuchte noch ein wenig, mir ein schlechtes gewissen zu machen und redete auf mich ein, dass ich doch unbedingt hilfe bräuchte, das sehe sie mir doch an – aber dann einigten wir uns darauf, dass ich sofort gehen konnte. ohne medikament, aber auch ohne tagesklinikoption.

o große göttin, was war ich erleichtert! zum ersten mal seit meinem check in anfang der woche konnte ich richtig frei atmen – so bedrückend hatte ich den klinikaufenthalt empfunden, wie eine strafe: da ging es mir schon schlecht, und dann musste ich auch noch ins landeskrankenhaus.

seit dem wochenende bin ich also wieder zu hause: sehr erleichtert, nicht auch noch einen medikamentenentzug machen zu müssen. die tage in dieser klinik werde ich abbuchen auf meinem 'lebenskonto erfahrungen sollseite'.

die depressionen sind natürlich nicht weg. keine wunderheilung. dennoch bin ich erstaunlicher weise sehr viel ruhiger, gelassener als vorher. ich liebe meine wohnung, fühle mich wohl hier und weiß einmal mehr, warum es sich dafür zu kämpfen lohnt.

während der paar tage im LKH habe ich viel seltsames erlebt. außerdem bin ich ganz wunderbaren menschen begegnet (und ein paar doofen …). ich habe gut für mich gesorgt und auf meine innere stimme gehört. das hat scheinbar ein stück weit meine seelischen selbstheilungskräfte aktiviert. es ist, als hätte jemand meinen inneren 'reset-knopf' gedrückt.

das ist gut. wir werden sehen.

fortsetzung folgt ....


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