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Montag, 4. Juli 2011

suchtgedächtnis

„paket vom optiker!“ der postbote sang es schon im treppenhaus und kriegte sich gar nicht mehr ein: „paket vom optiker!“ strahlend überreichte er mir den schmalen karton. als ob er den inhalt bestens kannte. ich hingegen war total überrascht.

„ein paket vom optiker?“ dachte ich. „komisch. die brille habe ich doch längst abgeholt. die wäre auch nicht so groß und so schwer.“ ich trug sie auf der nase, dreizehn gramm leicht.

langsam ging ich die stufen zu meiner wohnung hoch, betrachtete das paket von allen seiten. „hab' ich etwa was gewonnen?! na, das kann ja heiter werden.“



dann erinnerte ich mich, dass ich mich über die neue brille beschwert hatte. aus optischen gründen. wenn ich damit vor dem pc sitze, ist es eine verschwommene qual statt scharfsichtiger klarheit. als entschuldigung hatte man mir ein kleines präsent versprochen.

also eine entschuldigung sollte in meinem paket sein. quadratisch. länglich. schwer. zerbrechlich. ich hatte keine ahnung. wirklich nicht. ich rätselte: „hoffentlich ist das nicht irgendeine häßliche blumenvase in brillenform ….“ - bei meinem glück mit geschenkten gäulen ein durchaus berechtiger gedanke.

wieder in der wohnung, machte ich mir erst einmal einen kaffee. das ist so ein altes magisches denken von mir. je länger es mir gelingt, meine neugier im zaum zu halten und geduldig zu sein, umso besser wird der inhalt von briefen und paketen. da bin ich mir sicher! zumindest wird er weniger schlimm.

während der kaffee sich machte, legte ich mein altes päckchen- und brieföffnermesser schon mal zurecht. nach dem ersten schluck milchkaffee – aaaah! noch einmal tief luft holen und dann ran an die verpackung. ich liebe geschenke und war voller vorfreude!

ihr seht, was drin war im karton: eine flasche champagner. veuve emille brut. nicht gerade der allerteuerste, aber ein solides gesöff.

shice.

es hätte doch echt mal ein geschenk sein können, über das ich mich richtig freue und das ich auch behalten darf. statt dessen schickt mir der optiker die tödliche versuchung - und das auch noch in zeiten allerdünnster haut.

ich hätte den champagner gerne getrunken. sekt und champagner habe ich früher sehr geliebt. weil der nicht betrunken macht (dachte ich), sondern leicht und heiter, ein bißchen 'kieksig'. auch nach fast zwölf alkoholfreien jahren weiß ich noch genau, wie lecker das schmeckt. und wie schön der kribbelt, nicht nur in meinem bauch. ooh ja!

nur zu gern würde ich mir wieder mal die kante geben, ferien haben zumindest im kopf und den ganzen ollen lebenskokolores einfach für eine weile vergessen dürfen.

aber von sucht gibt es – genauso wie von erwerbslosigkeit - keinen urlaub. wenn ich jetzt wieder anfange, wäre es vorbei mit meiner würde, der anfang vom ende.

es würde nicht bleiben bei dem einen glas, der einen flasche. selbst, wenn ich es noch so wollte. eine zeit lang würde es vielleicht gehen. aber dann würde ich mehr wollen. viel mehr. so viel, dass ich ratzfatz wieder auf meinem damaligen level wäre von mindestens einer flasche wein am tag und darüber hinaus.

das nennt man suchtgedächtnis. das suchtgedächtnis ist ein ziemlich komplexer vorgang. es hat nichts zu tun mit 'charakterschwäche', wenn eineR nicht mehr aufhören kann nach dem ersten glas.

der körper will mehr, nicht die psyche. das suchtgedächtnis ist eingebrannt in den synapsen und sonstewo, quasi unlöschbar auf meiner internen festplatte. nicht bloß im arbeitsspeicher. auch kein fehler im betriebssystem, der mit einem flotten update dauerhaft zu beheben wäre.

nix da. es hat mit dem ADH zu tun. und mit dem MEOS.

wissenschaftlich kann ich das nicht erklären, dazu fehlt mir der hintergrund. aber ich kenne die groben zusammenhänge. die vorgänge in meinem körper, die mit alkoholkonsum und alkoholabbau zu tun haben, stelle ich mir vereinfacht vor wie einen netten kleinen zeichentrickfilm.

oder einen film von woody allen: „was sie schon immer über alkohol wissen wollten, aber sich nie zu fragen trauten, weil sie angst haben, ganz damit aufhören zu müssen, sobald sie die antwort kennen.“

der // zeichentrickfilm // geht ungefähr so:

wenn ich alkohol in meinen körper schütte, sind das anfangs sehr nette, lustige gesellen. das macht erst mal spaß. aber je mehr davon und je länger die in meinem körper in den blutbahnen und sonstewo zirkulieren, umso mehr verwandeln sie sich in brutale rabauken. sie grölen und prügeln, die reinsten stoffwechsel-hooligans.

dann schreit das gehirn: „was ist denn das für eine schlägertruppe?! die wollen wir nicht mehr, die sind ja giftig! leber! mach was!“

dann macht die leber was: sie produziert das alkohol-abbau-enzym alkoholdehydrogenase, kurz ADH. der magen hilft ihr dabei.

die zwei sind ein gutes team und putzen schön was weg. die jungs werden zahm, schlafen ihren rausch aus und am nächsten morgen geht es uns wieder gut.

wenn wir jetzt aber noch mehr alkohol-jungs oben reinlassen, dann machen die beiden irgendwann schlapp. so viel arbeit auf einmal, daran sind sie nicht gewöhnt. die folge?

am nächsten tag geht es allen körperteilen dreckig. am schlimmsten ist es im kombinierkästchen: da haben wir einen kater. das ist so ein fieses fettes tier, dass einem schwer auf dem kopf rumhängt, seine krallen in unsere kopfhaut schlägt und den schwanz vor unseren augen hin und her baumeln lässt. ihr wisst schon: verirrte, schlecht gelaunte alkoholjungs randalieren in den blutbahnen.

wenn das passiert, dann kriegt die leber eine krasse diskussion: „ey du faule leber, hasse nich' genug enzym? jetz' gehz uns konkret dreckig und du bisse schuld, du fette assibratze! servier das nich' noch mal, sonz messer isch disch krankenhaus. ischwör...“

die leber kann zwar nix dafür, wenn jemand anders so viel alkohol in ihren körper kippt, aber sie hat keinen bock auf prügel. sie schweigt und merkt sich, wieviel enzym sie produziert hat und dass das zu wenig war. beim nächsten mal produziert sie dann mehr und schneller.

wenn noch mehr alkohol kommt und noch mehr, dann schafft die leber das nicht mehr alleine. auch nicht, wenn der magen ihr hilft. dann delegiert sie einen teil von den saufjungs ans MEOS.

das geht nicht von heute auf morgen. es braucht eine gewisse gewöhnung, viele wiederholungen größerer alkoholischer raufboldclubs, immer wieder, über längere zeit. die leber ist ein toughes stück. bei erwachsenen menschen dauert das ungefähr fünf bis fünfzehn jahre. bei jugendlichen im alter von 15 – 25 jahren dauert es fünf bis fünfzehn monate, und bei kindern unter 15 hat die leber den bogen schon nach fünf bis fünfzehn wochen raus.

dann weiß sie bescheid, wieviel sie selbst produzieren muss und wieviel das MEOS übernehmen muss, so dass alle alkoholjungs unschädlich gemacht werden. weil sie so viel braucht, dass sie sich dann keine pause mehr gönnen darf, wenn sie mal angefangen hat, produziert sie quasi in vorauseilendem gehorsam immer sofort die zuletzt benötigte höchstmenge, sobald auch nur ein tropfen alkohol in ihre nähe kommt.

immer. alkoholjungs im anmarsch? zwei? na dann mal los! gestern waren es am ende achtundzwanzig! MEOS, du auch, mach hinne!

wenn also wieder 28 alks kommen, ist alles paletti, die leber packt ihr pensum, das MEOS übernimmt den überschuss.

ungefähr in dem augenblick, wo die leber ADH nicht mehr nach bedarf, sondern auf vorrat produziert und das MEOS sich einschaltet, übernimmt das suchtgedächtnis die kontrolle. genau das ist der 'point of no return'. die sucht ist ausgebildet, irreversibel.

leider hat nämlich die leber ein besseres gedächtnis als jeder elefant. sie wird den zuletzt erreichten höchststand nie wieder vergessen! nie. nicht nach einer alkoholfreien woche, nicht nach einem monat oder einem jahr, auch nicht nach zehn oder zwanzig abstinenten jahren. dieses leberluder ist nachtragend bis an unser lebensende.

zu dumm. wenn jetzt nämlich ich oder ein anderer alkoholsüchtiger mensch mal wirklich weniger trinken will als die übliche tagesdosis, dann kommt zwar die leber damit klar – aber nicht der rest vom body. weil die leber unaufgefordert ihr höchstpensum produziert, sobald sie einmal angefangen hat. auch wenn wir das ausnahmsweise mal nicht brauchen.

ist aber noch 'unbenutztes' alkoholabbauenzym vorhanden, dann ist die leber 'sauer' und beschwert sich bei den synapsen im hirn: „ey, ihr da oben! wozu mach ich mir denn hier die ganze enzymproduktionsarbeit!? guck mal, so viel übrig, steht hier alles noch rum! das schütte ich jetzt aber nicht weg. schick mehr alkohol!“ und schon ist es vorbei mit meinen guten vorsätzen „heute trinke ich aber mal weniger alkohol.“

tja. netter versuch, mal nur ein glas champagner trinken zu wollen statt wie sonst – oder wie früher - immer die ganze flasche. zu dumm aber auch, dass meine leber sich sofort daran erinnern würde, wieviel sie damals - zu meinem letzten lustigen besäufnis im sommer 1999 - zuletzt gebraucht hat.

// ende des zeichentrickfilms //

für mich ist es eine große erleichterung, um diese inneren stoffwechsel-zusammenhänge der alkoholsucht zu wissen. es hat mir geholfen, von dem seltsamen anspruch wegzukommen, den viele menschen an trockene alkoholikerInnen haben und den diese auch - aus falschem ehrgeiz, unwissen oder scham - an sich selbst stellen:

irgendwann mal wieder 'normal' trinken zu können, wenn ich nur tapfer lange genug abstinent bin. pustekuchen! das wird niemals funktionieren, never ever niemals nicht. eine kurze zeit lang vielleicht. aber über kurz oder lang lässt die eigene leber mir gar keine andere wahl, als wieder so viel zu trinken wie damals am schluss. bloß damit sie ihr zeugs los wird.

deswegen ist es für trockene alkoholiker nicht nur 'leichter', überhaupt keinen alkohol zu trinken als nur ab und zu ein glas. es ist die einzige möglichkeit, um die sucht auf dauer im zaum zu halten.

genau deswegen bleibt auch mein champagner zu. schließlich ist mein name nicht „ame weinhaus“ - sprich: ['eimi 'wainhaus]; falls ich mich jemals wieder auf eine bühne oder vor ein mikrofon stelle, dann sicher weder torkelnd noch lallend. in dieser hinsicht ist Amy Winehouse kein vorbild für mich. aber ihre stimme, hach! ihr song über die rehabilitationsverweigerung ist grandios. absolut typische, nasse suchtdenke!



ich überlege also noch, was mach ich mit der flasch?! es ist ein bißchen gefährlich, die in meiner wohnung stehen zu lassen. ein bißchen sehr gefährlich sogar. man sollte es nicht meinen, aber das ding im karton in der hintersten ecke des büroschranks zwickt mich.

zum wegwerfen ist sie mir zu kostbar – dafür lebe ich zu prekär, und champagner ist schon was besonderes für mich. die witwen-brause einfach nur an die/den erstbesteN zu verschenken, fände ich ein bißchen .... schade drum. bei ebay verkauft es sich schlecht, das habe ich schon recherchiert. eintauschen gegen 7-zwerge-kindersaft geht leider auch nicht.

soll ich eine tombola veranstalten? oder einen wettbewerb? was meint ihr? was mach' ich bloß mit der droge!?


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