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Samstag, 19. Juni 2010

aushalten

obwohl ich seit fast elf jahren keinen schluck alkohol mehr getrunken habe, merke ich doch immer wieder, dass ich durch und durch ein süchtiger mensch bin.


wenn mir etwas nicht passt, dann gerate ich schnell an meine grenzen und ich weiß nicht, wie ich all das unangenehme unerträgliche auch nur fünf minuten länger aushalten soll.

früher tat es dann oft ein alkoholhaltiges getränk. die methode „jetzt brauch ich erst mal einen cognac“ half schon der achtzehnjährigen über aufregung, enttäuschung, langeweile, schrecken, wut, angst, müdigkeit, ekel oder unwohlsein hinweg und beruhigte meine flatternden nervenenden. zumindest zeitweilig. mehr als zwanzig jahre lang.

heutzutage, fast fünfzig, flattern meine nervenenden nicht weniger als damals. irgend etwas reizt mich immer, und ich sollte mich doch allmählich daran gewöhnt haben. habe ich aber nicht. äußere einflüsse können mich so sehr nerven, dass ich sogar von mir selbst genervt bin.

warum kann ich nicht einfach mal pflegeleicht sein und alles toll finden? kann ich aber scheinbar nicht, und deswegen führt für mich am ungeliebten aushalten kein weg vorbei.

wenn es etwas gäbe, das so wirkt wie alkohol – ohne abhängig zu machen mit der zeit – ich wäre sofort süchtig danach! das gibt es aber nicht, und auch deswegen führt für mich am ungeliebten aushalten kein weg vorbei.

die anonymen alkoholiker bitten in diesem fall den sogenannten lieben gott um ausreichend gelassenheit, dinge auszuhalten, die sie nicht ändern können.

gelassenheit ist eine gute sache. mit gelassenheit allein ist es bei mir aber nicht getan. für mich ist diese ständige aushalterei von irgend etwas unabänderbarem ein wahnsinns-balanceakt, der mich schier übermenschliche kräfte kostet.

schon damals im entzug sagte die mir wohl wollende sozialarbeiterin: „Sie werden viele pausen brauchen. es kann sehr anstrengend sein, etwas nicht zu tun.“ mit „nichts tun“ meinte sie „keinen alkohol trinken“.

also arbeite ich nicht nur an meiner gelassenheit, sondern auch an meiner kraft. kraft zum aushalten.

herablassende vorgesetzte, die in emails die betreffzeile zur befehlszeile umfunktionieren? aushalten.
täglich kopfschmerzen? aushalten.
angst, dass das auto oder sonstewas kaputtgeht und kein geld für eine reparatur da ist? aushalten.
tinnitus ohne pause? aushalten.
finanznöte, weil das amt mal wieder keine kapazitäten hat, anträge zeitnah zu bearbeiten und dann auch noch richtig zu rechnen? aushalten.
die einsamkeit einer freien radikalen? aushalten.
kein tag ohne tränen, seit jahren? aushalten.
entsetzliches akkordeongedudel mit vermietergejaule aus der wohnung unter mir? aushalten.
alpträume nacht für nacht? aushalten.

vor lauter aushalten und ausruhen vom aushalten komm ich dann kaum noch zu was anderem.

derzeit zum beispiel ist das so: ich weiß ja, dass es nur noch fünf wochen sind, dann darf ich aus meinem ungeliebten hochschulbüro wieder ausziehen. trotzdem fallen mir das hingehen, das dortsein von tag zu tag schwerer. aber ich halte aus.

nach vier stunden aushalten dort bin ich so erschöpft, dass ich – kaum daheim – dieselbe zeit an mittagschlaf brauche, um zu mir zurück und zumindest einigermaßen wieder in meine mitte zu finden. so viel kraft hat es mich gekostet. früher mal, da hätte mir der konsum von einem piccolöschen vorgegaukelt, wieder fit zu sein. in meiner trinkerinnenendzeit wäre es dann eher eine magnum gewesen als ein piccolo. aber das ist lange her.

auch früher schon habe ich solche jobs gemacht, nur für geld. da ging das aushalten noch ganz gut. zum einen hat mir damals der alkohol „geholfen“. der andere unterschied zu heute ist, dass diese jobs früher so gut bezahlt waren, dass ich nach zwei monaten aushalten anschließend mein semester damit finanzieren konnte oder eine weltreise.

da war noch hoffnung dabei. ich habe prioritäten gesetzt und verschiedenes ausgehalten, um etwas anderes zu erreichen und in der gewissheit, dass danach etwas besseres kommt.

heutzutage finanziert so eine arbeitsstelle noch nicht einmal mein existenzminimum – geschweige denn könnte ich etwas zurücklegen für ein besseres „danach“. keine hoffnung mehr. das ist das schlimmste.

ob es danach besser wird, wenn ich weiterhin brav aushalte bis zum schluss, nur meiner würde wegen: das kann ich natürlich jetzt noch nicht sagen.

aber eines weiß ich gewiss: es wird anders werden. und nur dann kann es auch besser werden.

also halte ich weiter aus, zähle jetzt die stunden rückwärts und bin schon unter hundert. jeden tag nach dienstschluss wird das maßband ein stück kürzer. der countdown läuft. die hoffnung stirbt zuletzt.


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