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Samstag, 1. Mai 2010

gedanken am tag der arbeit - eine hochschulsekretärin berichtet

sekretärin sein an einer hochschule in baden-württemberg, das ist für mich eine ganz ganz öde, inhaltsleere arbeit, bei der sehr viele qualitäten und kenntnisse vorausgesetzt werden - inklusive hellseherischer fähigkeiten.



von der struktur her ist die stelle so angelegt, dass man kaum jemals eine aufgabe konzentriert am stück erledigen und ‚abhaken‘ kann: es gestaltet sich als unendlich schwierig und langwieriges unterfangen, die für einen ablauf notwendigen informationen alle in akribischer detektivarbeit zusammenzutragen und geduldigst von den betreffenden einzuholen; darüber hinaus wird man ständig unterbrochen durch email, telefon oder publikum in der tür.

es wird eine ständige verfügbarkeit erwartet: ich bin dienerin für ein gutes dutzend verschiedener damen und herren sowie für ein paar hundert studierende. immer freundlich, immer aufmerksam, immer alles im blick und überblick, auf alles gefasst und auch für unvorhergesehenes kompetent. jedeR einzelne ist der meinung, dass ihre aufgaben und anfragen die allerwichtigsten sind und sofort – am besten vorgestern - erledigt werden müssen.

es gibt keinerlei erfolgserlebnisse, obwohl man den ganzen tag mit höchster konzentration beschäftigt ist und tausenderlei im kopf haben muss. ich weiß am abend nicht mehr, womit ich den tag eigentlich verbracht habe. außerdem muss ich so dermaßen viele dröge verwaltungsablaufdétails und deutschgraues vorschriftenchaos in meinen armen kopf hineinhämmern, dass mir ganz schwindlig und übel wird. ich verstopfe und lähme mein hirn tagsüber mit hohlem zeug – abends fühle ich mich ausgebrannt und leer!

die arbeit als „mädchen für alles und kindermädchen für alle“ macht mir keinerlei freude, ist langweilig und nervig. richtige pausen gibt es nicht, denn ein essen in der mensa schmeckt selten gut und findet in einer lärmenden, unruhigen atmosphäre statt, die überhaupt nicht erholsam ist. obendrein besteht eine mittagspause mit den kollegInnen meist in der verlagerung des arbeitsplatzes an einen anderen ort, weil wir dort arbeitsabläufe besprechen und für den arbeitsbetrieb wichtige informationen austauschen. trotzdem wird diese zeit natürlich als ‚pause‘ abgezogen, auch wenn ich erschöpfter an den arbeitsplatz zurückkehre, als ich vor dem essen ohnehin schon war.

es ist eine typische frauenstelle: ohne aussicht auf verbesserung und völlig perspektivlos, es werden umfangreiche qualifikationen und höchste einsatzbereitschaft abverlangt – bezahlt wird aber ein ‚tarif‘ der nur eine stufe höher liegt als der für eine ungelernte arbeitskraft. einige meiner kolleginnen dort sind examinierte lehrerinnen aus anderen (bundes-)ländern, die in BaWü nicht unterrichten dürfen. die meisten haben einen mehr oder weniger gut verdienenden (ehe-)mann, retten sich dort vor häuslicher langeweile und freuen sich über einen zuverdienst – müssen davon aber nicht ‚leben‘.

bei meinen 85% stellenumfang reicht das gehalt nicht einmal für meinen eigenen lebensunterhalt, so dass ich nebenher mich mit dem arbeitsamt um hartz4 streiten muss, damit mein verdienst aufs existenzminimum aufgestockt wird, weil ich sonst meine miete nicht pünktlich und regelmäßig zahlen kann. derzeit erhalte ich vom amt monatlich etwa 180 euro „aufstockendes arbeitslosengeld II“.

all das stresst mich dermaßen, dass meine freizeit nicht mehr ausreicht, um mich zu regenerieren. ich schlafe fast nicht mehr, habe u.a. alpträume, chronische kopfschmerzen und tinnitus. ich lebe mit einem ständigen emotionalen und stressbedingten „jetlag“: schon wenn ich aufstehe ist mir übel vor angst und ekel, ich fahre heulend zur arbeit und nach dienstschluss reicht meine contenance – wenn es gut geht – gerade bis ins auto, wo ich erst mal sitze, mich irgendwie beruhigen muss und ganz lange nicht losfahren kann. an schlechteren tagen reicht meine fassade nicht einmal bis zur stechuhr.

erst recht nicht reicht meine kraft dafür aus, (wie vom amt erwartet) nebenher weiteres geld zu verdienen, um finanziell unabhängig zu sein. ich bin ja schon froh, wenn ich nur meinen eigenen haushalt einigermaßen gedingelt kriege. nicht einmal für ausgleichende freizeitaktivitäten habe ich kraft oder kapazitäten (vom geld dafür ganz zu schweigen).

über all das hatte ich ja vor kurzem schon einmal hier berichtet. danach habe ich mit vielen menschen lange, unterstützende gespräche geführt, die dann zu einer entscheidung führten, die mir wirklich nicht leicht gefallen ist:

aus all den genannten gründen bin ich nicht bereit und auch gesundheitlich gar nicht in der lage, meine stelle auf dem kontingent von 85% weiter zu verlängern. meine ärztin hat im april symptome eines akuten burnouts diagnostiziert und möchte mich lieber heute als morgen krankschreiben. weder die kolleginnen noch die vorgesetzten aber haben etwas davon, wenn ich immer wieder krank werde und ausfalle – ich selbst schon gleich gar nicht.

um die vereinbarten 34 wochenstunden ohne krankheitsausfälle bis zum vertragsende ordentlich und in würde ableisten zu können, habe ich darum gebeten, die arbeitszeit auf vier arbeitstage legen zu dürfen, so dass in der wochenmitte ein tag frei bleibt zum luftholen. dies wurde mir von der institutsleitung erlaubt, dafür bin ich sehr dankbar.

eine weiterbeschäftigung unter den gegebenen bedingungen kommt für mich nur in frage, wenn die arbeitszeit auf zwanzig wochenstunden (und auch das arbeitspensum entsprechend) reduziert und auf drei, höchstens vier arbeitstage in der woche verteilt wird.

der dann noch niedrigere verdienst würde vom amt weiterhin auf das gesetzlich garantierte existenzminimum aufgestockt, so dass meine finanzielle situation sich kaum verändert, gleich ob ich 20 oder 34 stunden in der woche arbeite. der unterschied zur vollen arbeitslosigkeit beträgt in keinem fall wesentlich mehr als die zuverdienst-differenz eines ein-euro-jobs (maximal 160 euro monatlich) zu „nur-hartz-vier“.

der derzeitige stand der verhandlungen: eine verkürzung meiner arbeitszeit ist aufgrund der stellenstruktur (und dem wegen sparmaßnahmen drohenden verlust der restlichen stunden für die hochschule) nicht möglich.

weil mein entschluss ziemlich kurzfristig und sehr radikal ist, habe ich meinen vorgesetzten angeboten, bis zum ende des semesters zu bleiben und auf halber stelle zumindest das nötigste zu erledigen, so dass mehr zeit bleibt, eine geeignete nachfolgerin für mich zu finden – und nicht mein weggang zusätzlichen stress für die anderen sekretärinnen bedeutet, die ja ohnehin schon genug zu buckeln haben und meine aufgaben dann auch noch mit übernehmen müssten.

das entscheidende kriterium für meinen aufhör-entschluss war dieser eine augenblick, als ich mir erlaubte, mir einmal ganz intensiv vorzustellen, wie sich das anfühlt, wenn ich dort schon bald nicht mehr hin müsste: ein einziges aufatmen und lockerlassen ging durch meinen körper, meine seele konnte wieder lächeln – große linderung!

nun werde ich also die kommenden drei monate durchhalten irgendwie, freue mich auf die zeit ‚danach‘ - und habe gleichzeitig große angst davor, wieder zurück zu müssen in diese demütigende mühle von „hartz4-und-sonst-gar-nichts“.

aber vorher kommt ja noch die reha im sommer. yesss!


PS.
[aktualisiert juni 2013]
dringend wichtig, fast vergessen: es gibt bundesweit verschiedene initiativen, die sich für eine leistungsgerechte(re) bezahlung von hochschulsekretärinnen einsetzen. diese sind teilweise von ver.di, teils hochschulintern organisiert.
die umfassendsten information habe ich bei der Heidelberger Sekretärinnen Initiative Excellent gefunden. reinschauen lohnt sich!
da ist also einiges im gange, zumindest was die bezahlung angeht.



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