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Mittwoch, 14. April 2010

kollateralschaden oder „100 tage im amt“

"eigentlich wollte ich nur einen brief zum postkasten bringen. aber dann bin ich aus versehen nach paris gefahren. so fertig war ich mit den nerven."


das wäre eine nette geschichte geworden! aber nein. leider ist meine realität nicht so poetisch. es war kein brief, sondern die caffetiera. ich bin auch nicht nach paris gefahren, sondern ich habe das ceranfeld zertrümmert.

es ist mir noch nie gelungen, wirklich auszubrechen und alles hinter mir zu lassen. statt dessen mache ich irgendeinen unfug, dessen negative auswirkungen nur ich selbst zu spüren bekomme. nach außen hin funktioniere ich bestens, bin immer freundlich und adrett. innerlich zerfleischt es mich.

ich bin fertig mit den nerven, das ist das einzige was stimmt: ich wußte nicht, wohin mit meiner anspannung, mit meinen kopfschmerzen, mit meiner wut, mit meinem tinnitus, mit meiner verzweiflung, mit meiner angst.

jetzt kann ich nichts mehr kochen auf dem herd. aber die caffetiera ist heile geblieben. das ist gut, denn die benutze ich auf dem gaskocher, nicht elektrisch. meine kontinuierliche versorgung mit milchkaffee in ausreichender dosis ist also gewährleistet.

derzeit geht es bei mir um die große frage: „tu ich‘s – oder tu ich‘s nicht“. ich stelle fest: manchmal kann eine besondere maßnahme auch darin bestehen, etwas nicht zu tun. das dumme ist, dass – egal ob ich es tue oder nicht tue – in beiden fällen die aussichten sehr schlecht sind für mich.

es geht um meinen arbeitsplatz. der vertrag ist ja befristet bis ende mai. von anfang an habe ich mich da nicht wohl gefühlt. ich habe mir große mühe gegeben, mich einzuarbeiten, mich einzupassen, mich zu gewöhnen, meinen kopf auszuschalten. es geht nicht.

dabei kann ich noch nicht einmal sagen, was es genau ist, das mich da so fertig macht. genau so wenig, wie ich sagen kann, was ich eigentlich zu tun habe. ich bin in diesem büro nicht nur mädchen für alles, sondern scheinbar auch kindermädchen für alle. dabei hatte ich anfangs gedacht, ich hätte es mit erwachsenen menschen zu tun.

den ganzen tag bin ich mit entfremdeter arbeit beschäftigt. tue nur dinge, die andere für wichtig halten, wann sie es für wichtig halten und wie sie es für wichtig halten. alles muss am besten vorgestern schon erledigt sein. es gibt keinerlei inhalte. nur einen großen grauen mausetoten verwaltungsapparat, den ich bedienen muss. bloß ohne bedienungsanleitung.

fast alles muss ich selbst herausfinden. sehr kafkaesk. ich weiß nie, ob meine arbeit nun gut ist oder richtig oder angemessen oder vielleicht voll daneben? das bewirkt bei mir ein ständiges gefühl der überforderung. ich kann nicht hellsehen, aber es wird scheinbar erwartet.

fachlich bin ich komplett unterfordert, was auf eine paradoxe weise zu meiner überforderung beiträgt. ich darf nicht selbst denken wollen. nur schreckliche verwaltungsformulare am computer ausfüllen, zeugs fotokopieren, post hin und her tragen, fremder leute texte tippen.

ich muss mich sehr verarmen, um diese arbeit tun zu können. es gibt nicht fünf minuten am tag, die mir auch nur ansatzweise spaß machen. es gibt keine erfolgserlebnisse, dafür jede menge druck. es ist ein hamsterrad im knast, die pädagogische horrorschule. es zerquält mich.

es gibt auch keine echte pause. die mittagszeit wird zwar von der arbeitszeit abgezogen, aber das essen mit kollegInnen ist reden über die arbeit, in der mensa: ohrenbetäubender lärm, es riecht nicht gut und schmeckt selten. keine erholung, sondern zusätzliche belastung.

in den ersten wochen habe ich so dermaßen mit den zähnen geknirscht vor anspannung und wut und frust, dass mir drei kronen abgeplatzt sind. das war kein spaß, aber teuer.

derzeit fahre ich jeden morgen heulend zur arbeit. schminke ich mich neu, vor dem aussteigen. im rückspiegel. wenn ich gut bin, halte ich ohne tränen durch bis zum feierabend. dann reicht meine contenance so gerade eben noch, bis ich wieder im auto sitze. ganz lange kann ich nicht losfahren, weil es mich so sehr weint und schüttelt.

meine freie zeit reicht nicht aus, um abzuschalten und wieder runterzukommen. mein seelischer jet-lag wächst täglich, ebenso als entspannungsphantasie die vodka-flasche vor meinem inneren geistigen auge. die frage „tu ich‘s – oder tu ich‘s nicht“ bekommt einen erschreckend lebensbedrohlichen aspekt.

vor wochen schon bin ich gefragt worden, ob ich bleiben und den vertrag verlängern möchte, bis anfang 2012. das wäre eine aussicht auf fast zwei jahre regelmäßiges einkommen! pünktlich die miete zahlen können! so viel sicherheit hatte ich noch nie zuvor in meinem leben.

leider ist die bezahlung so dermaßen grottenschlecht, dass ich monat für monat noch 200 euro vom hartz-amt dazu kriege, um auf mein existenzminimum zu kommen. zusätzlich habe ich nun fast 1000 euro schulden mehr, weil ich für januar angeblich doppeltes geld bekommen habe. das ist eine seltsame amtslogik und rechtlich abgesichert. meine situation verbessert sich dadurch nicht.

als ich im märz gefragt wurde, ob ich bleiben möchte, war ich natürlich erst einmal erfreut. und geschmeichelt. schließlich war das die erste positive reaktion auf meine arbeit dort nach mehr als zwei monaten, mein erstes feedback. wenn sie mich behalten wollen, muss meine arbeit doch ganz in ordnung sein.

wenn ich bleibe, habe ich gefragt, könnte ich dann meine stundenzahl reduzieren? weil mir sonst die kraft zum leben vollends abhanden kommt. das ist leider nicht möglich. ich habe trotzdem zugesagt. nun liegt der vertrag zur unterschrift bereit, und ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.

unterschreibe ich, mache ich mich auf dauer unglücklich und riskiere obendrein meine gesundheit, meinen klaren kopf. ganz schlecht.

unterschreibe ich nicht, bin ich bald wieder voll in hartz4. auch ganz schlecht.

vorgestern habe ich bei der ard fernsehlotterie gewonnen. der gewinn ist einer hartz4-aufstockerin angemessen: zehn deutsche euro (das ist seit jahren mein monatlicher einsatz). die darf ich behalten. aber sie reichen nicht einmal für die reparatur des ceranfelds. erst recht nicht für eine fahrkarte nach paris.


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