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Samstag, 20. Februar 2010

stolz & demut

zwei aspekte, die sich wie rote fäden durch mein leben ziehen, über die ich mir immer wieder gedanken mache, sind stolz und demut. unter anderem frage ich mich, ob stolz nun ein gefühl sei, oder eher eine lebenseinstellung? und demut? ist das auch ein gefühl - oder eine attitüde?



wie komm‘ ich drauf? zunächst die demut:

die begegnete mir in den selbsthilfegruppen für trockene alkoholikerinnen, schon während meiner entgiftung im krankenhaus vor mehr als zehn jahren: „du musst demut lernen“ hieß es da. oder „du musst demütig sein – dankbar dafür, dass du noch lebst und den absprung vom alkohol geschafft hast.“
diese sätze haben in mir viel widerstand geweckt (zunächst einmal, weil ich einen satz, der anfängt mit den worten 'du musst' weder ernst nehmen noch befolgen kann – aber darum geht es hier nicht ....):

„dankbar soll ich sein? für was denn? und wem überhaupt? für den ganzen scheiß in meinem leben? wenn ich irgend etwas zu wege gebracht hatte – trotz allem -, dann habe ich das MIR zu verdanken und niemandem sonst. ich und demütig? da träumt ihr von! nicht mit mir!“

meiner damaligen einstellung lag unter anderem zugrunde, dass mir der begriff der 'demut' aus dem christlichen wortgebrauch sehr suspekt war. dort wird er – meinem verständnis nach - gleichgesetzt mit 'unterwürfig': alles kritiklos hinnehmen – ganz egal ob gut oder schlecht, ohne sich gegen ungerechtigkeiten wehren zu dürfen. kurz: den dreck auch noch schlucken, mit dem die anderen mich bewerfen.

oder auch: dankbar sein für die erste ohrfeige links und ‚demütig‘ auch noch die andere wange hinhalten. nee danke. das war ganz sicher nicht meines!

ähnlich - wenn auch umgekehrt – verhält es sich mit dem stolz:

stolz gilt als eine der sieben christlichen todsünden: „nicht wie die stolze rosa neinnein sei nicht!“ das war mir ganz und gar verboten und ab-erzogen worden. ich durfte mich nicht schön finden. ich durfte nicht stolz sein. weder auf schrägen gesang noch auf gute noten – das war alles nur zufall, mir zugeflogenes talent.

stolz sein – das war gleichgesetzt mit hochmut, ist arrogant und unausstehlich (der 'erfolg' dieser brutalen erziehung war, dass ich null selbstwertgefühl entwickeln konnte und bis heute hart daran arbeite, das nachzuholen).

stolz durfte ich nicht sein, obwohl ich gern gewesen wäre – denn ich habe eine menge zeug gut hingekriegt. demütig sollte ich sein, wollte ich aber nicht, weil ich es nicht logisch finde, mich für qualen auch noch bedanken zu müssen.

ich weiß nicht, ob das eine typisch deutsche angelegenheit ist, die worte stolz und demut so negativ zu besetzen, ob es vielleicht auch eher katholisch oder evangelisch oder allgemein christlich ist. sicher ist jedoch, dass ich mich damit sehr unwohl fühlte und eingeengt.

schließlich gehören – nach meinem dafürhalten – sowohl stolz als auch demut zu den gefühlen. gefühle aber sind doch informationen der seele, so neutral wie nachrichten und deswegen jenseits jeglicher wertung: ein gefühl kann niemals wahr sein oder falsch. es ist da, oder es ist nicht da. bestenfalls kann es angenehm sein oder unangenehm. so sehe ich das.

irgendwo las ich dann – ich glaube, es war bei louise hay – dass demut im eigentlichen, ursprünglichen sinne des wortes nicht das kritiklose hinnehmen von unabänderlichen ungeheuerlichkeiten bedeutet, sondern eine tiefe dankbarkeit für alles, was der kosmos für uns bereit hält im leben. das kam mir schon näher, und ich konnte mich ein bißchen mehr anfreunden mit der aufforderung in den selbsthilfegruppen: 'lerne demut!'

neuer aspekt:
im zweiten jahr meiner abstinenz begann ich, flamencotanz zu lernen. eine offenbarung für mich: getanzte gefühle – freude und leid und ärger und trauer und einsamkeit und heiterkeit mit den füßen, mit dem ganzen körper zum ausdruck bringen dürfen!

ich konnte es kaum fassen, dieser tanz bedeutet expression pur – welch ein glück für mich! meine flamencolehrerin, gitana la chumbera*, war es, die mich wieder mit stolz und demut in berührung brachte.

sie erzählte uns mit leuchtend schwarzen augen vom stolz der zigeuner und wie wichtig er sei als grundlage des flamenco. ich konnte es kaum glauben! der verbotene stolz eine unverzichtbare basis?! sie erklärte es genauer:
„die guten tänzer sind stolz, dass sie tanzen können, dass sie das talent haben, dass es ihnen gelingt, ihre gefühle mit dem körper perfekt zum ausdruck zu bringen und ihr publikum damit zu verzaubern.“

„das sieht so aus“ sagte sie und stand ganz gerade vor mir - so, wie wir auch vor dem spiegel stehen, so wie wir tanzen: aufrecht, geradeaus, straight, mit geradem, offenem blick. so, wie auch ein yogi den 'berg' steht. gerade, seiner selbst bewußt.

„sich seiner selbst bewußt sein mit jeder zelle des körpers, das ist stolz“ sagte sie uns und erklärte weiter: „viele verwechseln stolz mit arroganz. aber arroganz ist etwas ganz anderes. arroganz ist, wenn man denkt, man könne etwas besser als andere und deswegen die anderen abwertet und auf sie hinab sieht. so – seht ihr?!“ hob dazu ihre nasenspitze nur zwei millimeter höher und sah auf uns herab.

„das sieht man manchmal bei tänzern, die auch ganz gut sind und sich deswegen für etwas besseres halten. aber das ist kein flamenco!“

ich sah sie fragend an. das leuchtete mir ein. es kam noch besser!

„die wirklich guten tänzer aber, die sind auch stolz, aber sie sind nicht arrogant. sie haben demut!“ sagte sie und senkte ihre nasenspitze einen tick nach unten. sie beugte nur den kopf ein wenig und blieb ansonsten genau so gerade und aufrecht stehen wie zuvor im stolz, sie machte keinen buckel: „DAS ist demut, meine damen! wir sind uns unserer selbst bewußt, wir wissen was wir können - und wir sind zutiefst dankbar dafür, dass wir es können! das ist flamenco.“

ich verstand. und war unendlich dankbar für diese erklärung. diese art von demut, in verbindung mit stolz (im sinne von wissen um das eigene können und mir meiner selbst-bewusst-sein) - die entsprach mir ganz und gar!

die flamencolehrerin setzte noch einen drauf: „nur um es ganz deutlich zu machen: viele von uns verstehen die demut falsch und denken, dass der stolz verboten sei. der stolz aber ist eine bedingung für die demut! wahre demut ist ohne echten stolz nicht möglich. denn das sähe dann so aus -“: sie verlor ihr rückgrat, sie fiel in sich zusammen, bekam einen buckel und schaute uns an von unten nach oben:

„DAS wäre nicht demut, sondern unterwürfigkeit! und die können wir im flamenco nicht brauchen. und sonst im leben auch nicht!“

ich habe leider keine bilder von ihrer eindrucksvollen vorstellung in sachen selbst-wert-gefühl und hoffe, ich habe euch das plastisch so beschreiben können, dass verständlich wird, was ich meine. jedenfalls war und ist es für mich ein großes geschenk, dass ich meinen stolz zurück habe. und auch für den ganzen rest kann ich nun – ganz demütig! - dankbar sein.

diese – für mich damals neue – art der demut und der seither nicht nur endlich erlaubte, sondern zwingend notwendige stolz haben meinem leben eine ganz andere qualität gegeben; es ist eine neue nuance dazu gekommen, die es mir leichter macht, die zu werden und zu sein, die ich bin.

stolz und demut haben für mich auch sehr viel mit nüchternheit zu tun, mit realistisch sein: mit klar sehen können - was ist, was ich bin, was ich kann – und was nicht. und das geht nun einmal nur, wenn ich auch einen klaren kopf habe.

ach, um noch meine eingangsfrage zu beantworten:
stolz und demut sind für mich beides: sowohl gefühle – als auch lebenseinstellung. und zwar eine sehr lebensbejahende!

* la chumbera, das ist spanisch und bedeutet ‚kaktusblüte‘. die kaktusblüte ist für mein leben auch aus anderen gründen sehr wichtig geworden. meine flamenco-chumbera aber, die hat heute geburtstag – und ich grüße sie hiermit herzlich!


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