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Mittwoch, 12. August 2009

ich bin prekariat ....

aua!
igitte!
was für ein hässliches wort, künstlich konstruiert aus 'prekär' (schwierig, misslich, bedenklich) und 'proletariat'.

"prekariat!" - das klingt wie eine schmuddelige krankheit, die eiterblase der gesellschaft.

phalaenopsis mini marc

"prekariat!" - das sind die menschen in diesem land, die von ihrer arbeit nicht (mehr/richtig) leben können.

angeblich sind wir alle halbe ausländer und schlecht ausgebildet und soziale schmarotzer.
wie beschämend!

so eine bin ich nicht. aber so eine bin ich doch!
weil es plötzlich diese schublade gibt, seit ein paar jahren.

als ich das wort zu beginn des dritten jahrtausends zum ersten mal hörte, da war ich erschrocken. welch ein abwertender begriff für menschen, deren lebensbedingungen noch schwieriger waren als die meinen. prekär! da wollte ich auf keinen fall dazugehören. das waren damals noch die anderen.

ich hatte doch alles richtig gemacht?!
intelligent, gutes abitur, studiert – ich hatte immer eine zwar leicht zigeunerhafte, aber dennoch bürgerliche existenz gewollt. hatte sparsam gelebt, geackert und fleißig gelernt und mich ständig selbst überfordert, um dem armseligen unbildungsarbeitertum* der eltern zu entkommen.

es ist mir nicht ganz gelungen.
das studium kurz vor dem abschluss geschmissen. später eine journalistenschule besucht und doch noch redakteurin und autorin geworden - also fast „was anständiges“. leider auch alkoholikerin – wie unanständig! alles zugleich.

die alkoholkrankheit habe ich in den griff gekriegt. mich gleichzeitig beruflich zu etablieren - das habe ich nicht geschafft. es gab keine festen stellen mehr um die jahrtausendwende, zumindest nicht für mich. überall wurde geoutsourced, freie wie ich wurden ratzfatz freigesetzt, wenn der rotstift dicke striche malte.
pech gehabt. dumm gelaufen.

seither schreibe ich ein bis zwei bewerbungen pro woche. dabei kapriziere ich mich nicht auf stellen, die meiner umfangreichen ausbildung auch nur annähernd das wasser reichen könnten. ich bewerbe mich auch als tippse, als erntehelferin, als kassiererin. die einladungen zu bewerbungsgesprächen der letzten jahre hingegen kann ich an meinen fingern abzählen.

so floate ich also frei schwebend durchs universum, immer am rande des existenzminimums. „ich dingele mich durch“ - das klingt so niedlich, so harmlos. ich nehme an aufträgen, was ich nur kriegen kann. es reicht nicht, ich muss 'aufstocken'. demütigende begegnungen mit dem apparat hartz4.

ich bin eine frau. ich bin über 40. ich bin prekär.
die vielen ablehnungen lassen mich an meinen fähigkeiten zweifeln, nagen am selbstwert.

solange ich meine arbeit kostenlos mache, hingegen, oh wunder! - da darf ich mich totschuften. vor ehrenämtern kann ich mich kaum retten, so viele 'gemeinnützige' wollen meine tolle arbeit kostenlos geschenkt haben. manchmal mach' ich's und arbeite für „aufwandsentschädigungen“ auf einem so lächerlich niedrigen niveau, dass es noch nicht einmal die butter auf die richtige seite vom knäckebrot finanziert.

ich glaube, es war erst im letzten jahr, dass mir allmählich dämmerte „prekariat – das bin auch ich“.
so lange habe ich es nicht an mich herangelassen, dieses eklige wort. länger noch, als ich vor rund zehn jahren brauchte, um die worte „ich bin trockene alkoholikerin“ über die lippen zu bringen.

alkoholsucht und prekär sein – das hat für mich parallelen: ich bin in beides hineingerutscht ohne es zu wollen, ohne es zu merken. beides war einfach irgendwann so geworden.

der unterschied zwischen prekär und alkoholkrank – der liegt für mich vor allem darin, dass ich es bei der alkoholkrankheit selbst in der hand hatte, das trinken abzustellen.

wie ich jedoch aus eigener kraft das prekär sein abstellen könnte, da habe ich derzeit keine idee.
jemand von euch da draußen vielleicht?

nach aktuellen schätzungen trifft es mittlerweile zwischen zehn und zwanzig prozent der deutschen bevölkerung, ja sogar von einem satten drittel 'neuer unterschicht' ist schon die rede.
das sind mindestens acht millionen menschen! allein in deutschland. aber ich spüre, dass es viel viel mehr sind.

denn nicht nur auftragsarme journalistInnen leben prekär: auch kinder und alleinerziehende und kinderreiche familien und rentnerInnen und chronisch kranke und kurzarbeiterInnen und arbeitslose und langzeitarbeitslose und sogenannte 1-euro-jobberInnen und schlecht bezahlte selbständige und zeitarbeiterInnen und teilzeitbeschäftigte und sittenwidrig schlecht bezahlte vollzeitbeschäftigte ....

ich bin prekariat.
aber ich bin viele!


* unbildungsarbeitertum ist nicht ganz das genaue gegenteil von bildungsbürgertum - aber so in etwa


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